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Wieviel solidarische, wieviel individuelle Verantwortung? Es gibt viele Möglichkeiten für einen gerechten Selbstbehalt.

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Wieviel solidarische, wieviel individuelle Verantwortung? Es gibt viele Möglichkeiten für einen gerechten Selbstbehalt.

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Die Leistungen der Krankenversicherung werden in Form von Sachleistungen und von Geldleistungen erbracht. Diese terminologische Zweiteilung zeigt bereits an, daß unter den Sachleistungen nicht nur Leistungen in Form von Sachmitteln (Heilmitteln, Heilbehelfe), sondern auch Dienstleistungen (ärztliche Hilfe, Anstaltspflege) zu verstehen ist: Letztlich werden Sachleistungen im Gegensatz zu Geldleistungen (Krankengeld) als all jene Leistungen der Krankenversicherung bezeichnet, die der Patient in natura benötigt.

Im Hinblick auf diese Leistungen wird immer wieder die Forderung in den Raum gestellt, daß durch die Krankenversicherung eine Grundversorgung mit Gesundheitsgütern gewährleistet sein soll, und daß darüber hinausgehende Leistungen durch Eigenvorsorge gedeckt sein müssen.

Wenn und soweit es um die Finanzierung von besonders bequemen Verbandsmaterialien geht, ist diese Forderung meines Erachtens auch sachgerecht: Warum soll die Gemeinschaft für besonderen Komfort aufkommen, wenn medizinisch auch mit unbequemeren Mitteln das Auskommen gefunden werden kann?

Beschränkt man die Diskussion um Eigenleistung freilich auf diesen Komfortbereich, ist nur eine punktuelle Wirkung zu erwarten. Die Strukturfrage lautet nicht, bis zu welchem Leistungsniveau die Krankenversicherung einstehen muß, sondern ab welchem Leistungsniveau die Verantwortung der Solidargemeinschaft einsetzen soll, weil eine Eigenverantwortung nicht mehr eingefordert werden kann: Weil das „obere" Ende der Leistungspalette die finanzielle Leistungsfähigkeit des Individuums zweifellos überfordert, ist das „untere" Ende der Leistungen soweit in die Eigenverantwortung zurückzustellen, als eine Finanzierung die Kräfte des Individuums nicht überfordert.

Solche Überlegungen laufen zweifellos darauf hinaus, daß der Kranke in stärkerem Maß als es derzeit der Fall ist, für Kosten seiner Behandlung aufkommen muß. Aber: Warum sollen wir weiterhin aus Krankenversicherungsmitteln Zuzahlungen zu teuren modischen Brillenfassungen gewähren? Und: Warum sollen wir nicht überhaupt an die Einführung eines Systems von Selbstbehalten denken?

Dagegen wird meist vorgebracht, daß es hier zu einer Umverteilung zu Lasten der sozial Schwachen komme, weil die Gesunden weniger, die Kranken aber stärker zur Finanzierung herangezogen würden.

Dem ist freilich entgegenzuhalten, daß eine derartige Umverteilung keineswegs zwingend negativ und daher abzulehnen ist, wenn man die finanzielle Leistungsfähigkeit der Betroffenen zur Grundlage ihrer Beteiligung an den Krankheitskosten macht. Wenn man nämlich zweifellos ablehnt, daß der Arme, wenn er krank wird, noch ärmer werden soll, führt dies nicht zwingend zur Ablehnung von Selbstbehalten: Warum soll nicht jener, der finanziell dazu in der Lage ist, in höherem Maß seine Krankheitskosten selbst tragen, als der, dessen Finanzkraft schwächer ist?

Ich meine sogar, daß nur eine derartig differenzierte Sicht der Dinge den Geboten der Solidarität und der Humanität entspricht: Primäres Ziel eines solidarischen und humanen Gesundheitswesens muß doch sein, die großen Leistungen durch die Solidargemeinschaft für alle zur Verfügung stellen zu können; wenn es in der Finanzierungsdecke eng wird, muß daher der kostenlose Zugang zur kleinen Leistung reduziert werden! Unter dem Blickwinkel der Solidarität muß sichergestellt sein, daß jedenfalls der „große" Behandlungsaufwand, der die Leistungsfähigkeit des einzelnen typischerweise überfordert, auch weiterhin allen auf Kosten der Solidargemeinschaft zur Verfügung gestellt wird; soweit aber Behandlungsaufwand das Individuum nicht überfordert, kann eine Kostentragung durch die Solidargemeinschaft ausscheiden.

Folgt man dieser Überlegung, wäre eine Grenze zwischen jenem Bereich, der der Individualverantwortung zukommt, und jenem Bereich, in dem die Verantwortung der Solidargemeinschaft einsetzt, nach der finanziellen Leistungsfähigkeit des einzelnen zu ziehen. Wo diese Grenze liegt, kann man zum einen nicht abstrakt sagen, weil sie Ergebnis einer politischen Bewertung ist. Zum anderen kann die Grenzziehung nicht eindimensional vorgenommen werden, sondern muß -um eine möglichst große Akzeptanz und innere Schlüssigkeit der Grenze zu erzielen - eine Vielzahl von Gestaltungsvarianten nutzen: Ohne derartige Differenzierung wären Minimalanforderungen der Gerechtigkeit nicht erfüllbar.

Dem entsprechend könnte man In-dixdualverantwortung auf der Grundlage von einzelnen Leistungen („Jeder zahlt die Quartalspauschale für den praktischen Arzt selbst") oder auf der Grundlage von Leistungskatalogen („Die Krankenkasse zahlt erst für Operationen ab der Operationsklasse x") definieren. Vorstellbar sind auch Bewertungen nach Betragsgrenzen, wobei absolute („Jeder zahlt die ersten 5.000 Schilling Gesundheitsausgaben pro Jahr selbst") oder relative („Die Krankenkassa zahlt erst, wenn der einzelne bereits ein Prozent seines Monatsgehalts für Gesundheitszwecke aufwenden mußte") Bewertungen denkbar sind.

Daß dabei auch weitere Kriterien (Familienstand, Sorgepflichten und so weiter) einbezogen werden können und müssen, sowie Kombination der verschiedenen Bewertungskriterien möglich ist, versteht sich von selbst; überdies wird es eine absolute Ein-kommens-Untergrenze geben müssen, bei der eine Eigenleistung keinesfalls eingefordert werden kann.

Alles in allem ist es wichtig, auf Kreativität zu setzen: Nicht der schematische, sondern der intelligent-kreative Selbstbehalt kann sinnvolle und gleichzeitig möglichst gerechte Finan-zierungs- und Steuerungsfunktion entfalten.

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