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Niemand soll sagen, es geht nicht — es geht!

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Schuldenmoratorium, Finanzhilfe ä la Marshall-Plan - ein Ansatz zur Lösung der Schuldenprobleme der Dritten Welt?

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Schuldenmoratorium, Finanzhilfe ä la Marshall-Plan - ein Ansatz zur Lösung der Schuldenprobleme der Dritten Welt?

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Was mich interessiert, ist das Problem von Schuld, wenn sie unbezahlbar ist. Was ist unbezahlbare Schuld? Das Problem der Außenverschuldung Lateinamerikas und der Dritten Welt ist wesentlich ein Problem von Schulden, die nicht bezahlt werden können. Warum geben Gläubiger eigentlich Geld für Schulden, die nicht bezahlt werden können? Und was passiert mit dem Schuldner, wenn er seine Schuld nicht bezahlen kann?

Ein Problem wie das der Auslandsverschuldung Lateinamerikas kann man nicht verstehen aufgrund unserer persönlichen Beziehungen zur Rank. Wenn wir einen Kühlschrank kaufen und abstottern, haben wir eine ganz bestimmte Form von Schuldbeziehung, sie hat sehr wenig mit Schuldbeziehung derart zu tun, wie sie etwa zwischen dem Norden und dem Süden auftauchen. Meine erste These: „Die Schulden können sich nur verstehen in einem Schuldenkreislauf”.

Schulden, wie sie in diesem Fall entstehen, entstehen nicht durch Einkommenstransfer von Seiten der zentralen Länder in die abhängigen Län-, der. Sie können daraus entstehen, das Typische ist es nicht. Ein Beispiel: Wenn unsere Banken aus Lateinamerika eine Summe von 100 für Gewinntransfers und -Zinsen abziehen, dann ziehen sie denen 100 aus der Tasche. Wenn unser Parlament dann beschließt, daß es eine Wirtschaftshilfe von 20 geben wird, dann stecken wir ihnen 20 in die andere Tasche. Wir haben also 80 abgezogen. Das Parlament aber schafft einen Publikumsakt. Was wir erfahren ist, daß wir ihnen 20 in die Pasche gesteckt haben. Daß wir 100 herausgezogen haben, erfahren wir nicht, die Öffentlichkeit fragt: Was ist mit dem vielen Geld passiert, das wir rübergeschickt haben?

Als ich studierte, hatten wir einen Professor für Statistik, der fragte uns: Was ist eine Lüge zum Quadrat? Die Antwort war: Statistik. Dann begann er zu erklären, was ich ihm bis heute verdanke: Eine Zahl ist nur interpretierbar im Zusammenhang aller anderen Zahlen. Die Zahl, daß wir eine Wirtschaftshilfe von 20 in die Dritte Welt geschickt haben, besagt nicht, ob wir etwas herausgezogen oder hinübergeschickt haben. Die Meinungsbildung aber wird auf dieser Einzelzahl basieren, und dadurch kommt eben das, was dieser Statistiker Lüge zum Quadrat nannte.

Ein Beispiel: In Chile gab es in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine große nationale Salpeter-Produktion. Ein Lord North, dem es in England weitgehend gelungen war, den Salpeter-Markt zu monopolisieren, kam nach Chile, setzte die damaligen Besitzer unter Druck und kaufte den Salpeter auf. Er kaufte ihn aber auf mit Krediten, die ihm chilenische Banken gaben. Es dauerte etwa zehn Jahre, danach war der Salpeter englisch. Aber es war nicht ein Pfennig von England nach Chile geflossen. Wir müssen vorsichtig sein. Es entsteht Auslandskapital als Direktinvestition. Es steht überhaupt nicht fest, daß da auch nur ein Pfennig geflossen ist. Es entstehen Kreditschulden, es ist überhaupt nicht raus, ob ein Pfennig ausgegeben worden ist von Seiten des Gläubigers.

Deshalb Schuldenkreislauf.

Das Zweite: Schulden kommen, wenn sie unbezahlbar werden, an einen Punkt, an dem sie sich im Bhy-thmus eines Schuldenautomatismus erhöhen. Sobald sie unbezahlbar werden, vergrößern sie sich im Bhythmus der Dynamik von Zinzeszinsen. Was geschieht im Fall, wenn Schulden unbezahlbar werden? Es kann eine Panne bei der Bank sein. Aber es gibt Schulden, die Krediten entsprechen, die die Absicht haben, eine nicht bezahlbare Schuld zu produzieren. Es ist

keineswegs so, daß Banken nur leihen, damit das Geld zurückgezahlt wird. Das ist sehr häufig und vor allem in normalen Beziehungen ist das so. Es kommen aber immer Situationen zustande, in denen es von der Seite dessen, der Geldgeschäfte macht, viel profitabler ist, eine Schuld zu produzieren, die nicht zahlbar ist.

Dal3 eine Schuld nicht zahlbar ist, könnte sehr viele Ursachen haben, eine könnte sein, daß der Gläubiger eine nicht bezahlbare Schuld will. Genau das ist das Problem des Wuchers, das Problem des Kredits in Vorkapitalistengesellschaften. In Kapitalistengesellschaften ist es nicht generell so, aber wir sprechen ja über eine konkrete Schuld.

Die herrschenden Klassen sind korrupt

Wie ich glaube, ist der Charakter der Unbezahlbarkeit der Auslandsverschuldung sowohl für den Weltwährungsfonds als auch für die Banken Mitte der 70er Jahre dieses Jahrhunderts klar gewesen. Die haben spätestens von diesem Moment an Kredite gegeben, damit eine Schuld entsteht die nicht zahlbar ist. Übrigens ein Skandal, daß der Weltwährungsfonds gegenüber einem solchen Prozeß nicht eingegriffen hat. Warum eigentlich? Warum ist es von Vorteil für den Gläubiger, eine nicht zahlbare Schuld zu produzieren? Weil das Ergebnis die absolute Abhängigkeit des Schuldners ist. In der Geschichte führt das bis zur Schuldversklavung. Gegenüber einer nicht zahlbaren Schuld bleibt nicht ein Best von Unabhängigkeit, weder Eigentum noch persönliche Unabhängigkeit.

Selbst Max Weber spricht noch, und zwar auf die kapitalistische Gesellschaft hin, von der herrenlosen Sklaverei des Schuldners. Wir haben heute eine Verschuldung, die durch den Verkauf aller Vermögenswerte der Dritten Welt nicht mehr gedeckt werden kann. Was bedeutet das? Die absolute Herrschaft. Hat man das erreicht, ist man der absolute Herr von drei Kontinenten - außer einigen Ländern, denen es trotz allem gelungen ist, sich da herauszuhalten.

Meine dritte These bezieht sich auf die spezifischen Gründe von Verschuldungen. Einige sind zweifellos Gründe der Korruption, man könnte Länder nennen wie Venezuela, wo fast 100 Prozent der Außenverschuldung durch Korruption entstanden sind. In Lateinamerika spricht man zumindest in einigen Kreisen von einem Dreiecksverhältnis. Das ist die Korruption zwischen herrschenden Kreisen Lateinamerikas, zwischen den herrschenden Banken des Nordens und dem Weltwährungsfonds. Das Korruptionsproblem ist ein Weltproblem, ist ein geradezu ungeheuerliches Problem. Aber es ist nicht zu erfassen, wenn man davon spricht, die herrschende Klasse Lateinamerikas ist korrupt. Die herrschenden Klassen sind korrupt, das würde der Sache sehr viel näher kommen. Ein anderes Problem sind bestimmte gigantische Projekte die in bestimmten Momenten aufgetaucht sind.

Eine vierte These: In der heutigen Situation ist eine Lage entstanden, in der der Versuch, die Schulden zu bezahlen, den Buin erhöht und die Zahlungsfähigkeit verschlechtert. Aufgrund der ganzen Politik der Strukturanpassungen ist die Industrialisierung dieser verschuldeten Länder zurückgegangen, ihre Exporte sind vor allem Bohstoffe und Agrargüter. Gerade bei Agrargütern entsteht durch eine übermäßige Exportanstrengung ein ganz scharfer interner Wettbewerb der sehr schnell zum ruinösen Wettbewerb wird.

Die Gläubiger haben keinen Grund, dagegen einzuschreiten. Der Kaffee, die Bananen werden billiger, lauter gute Nachrichten für den Gläubiger. Von 1982 bis 1988 steigt der Export Lateinamerikas in physischen Einheiten gemessen um 50 Prozent. Die Exporteinkommen bleiben gleich. Es entsteht ein völlig verzweifelter Leerlauf. Man dreht sich auf eine ungeheuerliche Art, und man fällt zurück, man kommt nicht vorwärts. Je schneller man dreht, umso weniger kann man sich bewegen.

Eine fünfte These: Es ist von ganz großer Bedeutung für die dramatische Katastrophe in diesen internationalen

Beziehungen, daß der Bankrott unmöglich ist und es keinen relevanten Schutz für den Schuldner gibt, das, was wir in internen Beziehungen haben: daß der Schuldner ein Becht hat, daß sein Existenzminimum nicht zerstört wird. Hier kann das Existenzminimum zerstört werden, und zwar grenzenlos, bedingungslos. Es gibt kein Ende des Prozesses, es gibt die Unmöglichkeit des Bankrotts.

Das aber ist in Lateinamerika noch verstärkt durch ein Element. 1982 waren zwei Drittel der Schulden Latein-amerikas Privatschulden von Unternehmungen gegenüber Banken ohne öffentliche Garantie. Es wäre kein Problem gewesen, man kann ein Unternehmen bankrott gehen lassen, wenn es so verschuldet ist, und dann hat die Bank das Nachsehen, denn sie hat schließlich die unzahlbaren Kredite gegeben. Das ist ihre Sache. Als in Deutschland die AEG zusammenbrach, hat nicht etwa die Bundesregierung interveniert, die brach zusammen, und die Banken verloren, was sie investiert hatten. Sie hatten eben riskante Kredite gegeben und mußten das Bisiko tragen.

In Lateinamerika wurde von den Begierungen der Ersten Welt mit Hilfe des Weltwährungsjbnds allen Ländern aufgezwungen, diese privaten Schulden in öffentliche Schulden zu verwandeln. Generell gegenüber Staaten haben wir kein Bankrottsystem, aber da wo das Bankrottsystem noch hätte funktionieren können, hat man es verhindert.

Eine sechste These: ein Szenario, in welche Bichtung wir an Lösungen denken können. Ich würde am liebsten als Grundlage einen Verschuldungsprozeß ähnlich großer Art und ähnlicher Unmöglichkeit der Zahlung erwähnen, in dem das kapitalistische Weltsystem bereit war, ihn zu lösen. Das ist Westeuropa in der Nachkriegszeit. Die wirtschaftliche Wiedererholung Westeuropas in der Nachkriegszeit hat ganz direkt mit dem Schuldenproblem Westeuropas zu tun. Die Lösung ist keineswegs durch den Marshall-Plan zu erklären. Er ist eines der Elemente, notwendig, aber keineswegs ausreichend. Wir hatten damals eine ganz außerordentlich hohe Verschuldung der kriegsführenden Länder England, Frankreich gegenüber den USA und das anstehende Problem der Beparationen von Seiten Deutschlands.

Man erklärte ein praktisch unbefristetes Schuldenmoratorium. Es ging um Summen, denen ähnlich, um die es heute geht. Es geht, niemand möge sagen, es geht nicht. Warum ging es 1948? Und 1952, im Schuldenabkommen in London, wurde es festgeschrieben. Es geht also. Aber es war nicht genug, das wußten diejenigen, die dieses Schuldenmoratorium Krachten. Weiters sagten sie, wir brauchen die Sicherheit, daß nicht wieder Verschuldungsprozesse einsetzen von diesem Nullpunkt aus. Das war in Europa die westeuropäische Zahlungsunion, die Clearingssysteme einrichtete, die es vermieden, daß zeitweilige Ungleichgewichte des Außenhandels in langfristige Verschuldungsprozesse ausarten konnten.

Teilentschuldungen sind absolut sinnlos

Die Marshall-Plan-Hilfe war keine Kredithilfe, obwohl er die äußere Form hat. Sie implizierte keine Zahlungsverpflichtung. Das Problem der Zahlung wurde durch die sogenannten Gegenwertmittel gelöst. Gegenwertmittel flössen nicht zurück an den Kreditgeber. Ich glaube, wir könnten uns zumindest in der Phantasie davon anregen lassen, in welche Bichtung wir Lösungen zu suchen hätten. Ich würde immer sagen: Schuldenmoratorium und zwar ganz weitgehend. Diese Teilentschuldungen sind absolut sinnlos gegenüber nicht zahlbaren Schulden. Bei zahlbaren Schulden sind sie sehr wichtig, gegenüber nicht zahlbaren Schulden sind sie weitgehend ineffektiv.

Schuldenmoratorium, eine entsprechende Weltwirtschaftsordnung, die meiner Ansicht nach auf der einen Seite solche Clearingssysteme braucht aber auf der anderen Seite eben auch Marktordnung des Typs, wie wir es in der EU ganz generell kennen. Daraufhin noch Finanzhilfe und die nicht als Kredit. Wir müssen uns daran gewöhnen, so zu denken, und wir sollten dabei immer im Auge haben: In der Geschichte hat es so etwas gegeben.

Hätte Lateinamerika nie Auslandskapital, nie Kredite bekommen, ginge es ihm heute besser. Ein Beispiel ist Japan. Wenn Japan sich entwickeln konnte, wie es sich entwickelt hat, spielt dabei die Tatsache eine ganz zentrale Bolle, daß Japan von Beginn an Auslandsinvestitionen verbot. In Japan sind Auslandsinvestititonen erst legal seit den 70er Jahren. Andere Länder Südostasiens, Korea, Taiwan, haben zwar nicht diese radikale Politik gegen ausländische Unternehmen gemacht, aber sie haben eine parallele Politik gemacht, die sich vor allem darauf verließ, systematisch nationale Unternehmungen zu unterstützen und zu subventionieren.

Ich glaube also, daß wir durchaus Lösungen ins Auge fassen können, die realistisch sind, das einzige was ich glaube, was nicht realistisch ist, ist, daß die Länder der ersten Welt bereit sind, zu akzeptieren. Wenn sie 1948 bereit waren, sie zu akzeptieren, war das Teil des Konflikts mit der Sowjetunion und den sozialistischen Ländern. Niemals hätte man das ohne das gemacht. Daher sind alle Zonen, die unterstützt wurden, Grenzzonen zum Ostblock: Südkorea, Taiwan, Japan, Westeuro-' pa. Und außerhalb dieser Zonen hat es nichteinen einzigen Versuch gegeben, etwas ähnliches zu machen.

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