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„Perfekte Marktordnung“

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Die Hauptschwierigkeiten für die Landwirtschaft ergeben sich paradoxerweise daraus, daß sie in technischer Hinsicht in einem nicht vorhersehbaren Maße an der industriellen Entwicklung teilgenommen hat. Die Zählungen landwirtschaftlicher Maschinen und Geräte lassen deutlich den raschen technischen Fortschritt in der Landwirtschaft erkennen: 1946 gab es in Österreich 3500 Melkanlagen, 1957 18.000 und 1962 bereits 40.500; die Zahl der Motormäher stieg von 4000 auf 58.000 und 94.000; am eindrucksvollsten war die sprunghafte Zunahme des Traktorbestandes von 7300 (1946) auf 79.700 (1957) und 178.500 (1964).

Die zunehmende Anwendung von Technik und Wissenschaft, verbunden mit besserer Ausbildung und größerer Spezialisierung, hebt die Landwirtschaft auf eine hohe Intensitätsstufe. Eine Folge davon ist eine Ausweitung des Produktionsvolumens. Der Markt ist geschützt. Die Preise liegen über dem Weltmarktniveau. Dazu und für allgemeine Zwecke der Agrarförderung werden staatliche Subventionen gewährt. Naturgemäß fachen auch sie direkt oder indirekt die Produktion an. Ist das staatliche System des Agrarpro-tektdonismus einmal eingeführt, so führt es mit innerer Logik zu immer weitreichenderen Marktinterventionen und schließlich als „perfekte Marktordnung“ zu Absatzgarantien.

Alle diese Momente führen bei entsprechenden natürlichen Voraussetzungen zu Agrarüberschüssen, die ökonomisch nicht mehr vertretbar sind. Auf der einen Seite ist daher die Industriegesellschaft westlicher Prägung — ernährungsmäßig gesehen — eine „Gesellschaft im Überfluß“. Dem steht auf der anderen Seite eine unibefriedigende Situation der landwirtschaftlichen Bevölkerung, eine „Disparität“ der landwirtschaftlichen Einkommen gegenüber.

Das Disparitätsproblem in der Landwirtschaft

Was bedeutet „Disparität“? Disparität ist ein relativer Begriff. Sie ergibt sich für die Landwirtschaft aus dem Einkommensvergleich mit Industrie und Gewerbe und drückt sich in einer verhältnismäßig niedrigeren Produktivität je Arbeitskraft aus.

Es erhebt sich nun die Frage, warum die Einkommensdisparität, die zwischen Landwirtschaft und Industrie und innerhalb der Landwirtschaft selbst festgestellt worden ist — und die es ja auch früher gegeben hat —, gegenwärtig so stark in den Mittelpunkt wirtschaftspolitischer Diskussionen und Auseinandersetzungen gerückt ist. Das Disparitätsproblem ist eine Erkenntnis aus der Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Vorher hat man deswegen nicht darüber gesprochen, weil man keine entsprechenden Statistiken zur Verfügung hatte. Zum erstenmal tauchte das Disparitätsproblem in der Form der „Preisschere“ beim russischen Theoretiker Warga auf (er hat auch den Ausdruck „Preisschere“ geprägt). In den europäischen Industrieländern begann man sich erst nach dem zweiten Weltkrieg mit diesen Problemen zu beschäftigen.

Die Industriegesellschaft ist charakterisiert durch eine ständige

Steigerung der menschlichen Arbeitsproduktivität, hervorgerufen durch Arbeitsteilung, technischen Fortschritt und bessere Ausrüstung der Arbeitskräfte mit Kapital. Verbunden damit ist eine Steigerung des Sozialprodukts im allgemeinen, permanenter Einkommenszuwachs und Hebung des Lebensstandards je Kopf der Bevölkerung. Produktion und Konsum werden dynamisiert.

Mit gehobener Lebenshaltung geht die Nachfrage nach Getreide und Kartoffeln zurück, die von Fleisch, Molkereiprodukten und Milch steigt. Außerdem zeigt sich noch die Tendenz, zunehmend zugerichtete und verarbeitete Nahrungsmittel zu kaufen, so daß den Verarbeitungsbetrieben und dem Handel ein immer höherer Anteil an den Konsumaus-gaben zufallen muß. (Im Durchschnitt der OECD-Länder beträgt der Wert der landwirtschaftlichen Rohprodukte zu Ab-Hof-Preisen nur noch 60 Prozent der Verbrauchsausgaben zu Kleinhandelspreisen.)

Bei diesen Marktverhältnissen ist eine Erhöhung der landwirtschaftlichen Einkommen über „bessere“ Preise und damit eine Beseitigung der Disparität nicht rasch zu erwarten.

Die „unbegrenzte“ Nachfrage nach Gütern der gewerblichen Wirtschaft trifft sich mit der Möglichkeit dieser Wirtschaftsgruppe, ihre Produktionsfaktoren und vielfach auch das Produktionsprogramm beweglicher einzusetzen. Deshalb expandieren Industrie, Gewerbe und Handel rascher, mit der Folge, daß der Anteil der Landwirtschaft an der Wertschöpfung ständig zurückgeht.

Die Landwirtschaft kann nie mehr einnehmen als an Erzeugnissen abgesetzt werden kann. Daher ist die

Einführung des technischen Fortschrittes in der Landwirtschaft der Grund dafür, daß das absetzbare Angebot von relativ immer weniger Arbeitskraft erzeugt werden kann.

Während der letzten Jahrzehnte konnte man in Europa einen Rückgang der Agrarbevölkerung feststellen. So schmerzlich einzelne Fälle gewesen sein mögen: ohne solche Umschichtungen in der Beschäftigtenstruktur gibt es in der Regel keine wirtschaftliche Entwicklung und auch keine nachhaltige Steigerung der Pro-Kopf-Einkommen in der Landwirtschaft.

„Die Verminderung der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte ist die unausweichliche Konsequenz der Bemühungen um Leistungssteigerung und Kostensenkung“ (A. Hanau).

Anteil der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte an der Gesamtbevölkerung in v. H.

1950 1961

Österreich 33,0 22,7

BRD 24,7 14,4

Schweiz 16,5 11,7

Großbritannien 5,6 4,2

Portugal 48,3 40,0

USA 12,5 3,6

Auf die Dauer läßt sich ein den inhärenten Tendenzen der Industrie-gesellschaft entsprechendes „paritätisches Einkommen“ nur durch eine weitere Verringerung der Arbeitskräfte erreichen. Wenn in diesem Zusammenhang von der Landwirtschaft als einem .^schrumpfenden Gewerbe“ gesprochen wird, so trifft dieser Ausdruck nicht ganz den Kern dieser Vorgänge. In Wirklichkeit nimmt ja die Produktionsleistung der Landwirtschaft zu. Die Ge-samterzeugung kann jedoch von immer weniger menschlichen Arbeitskräften bewältigt werden. Der Begriff „schrumpfendes Gewerbe“ bedeutet damit, daß die Landwirtschaft laufend Arbeitskräfte freisetzen muß und einen steigenden Kapitalbedarf hat. „Wenn beide Prozesse ohne Hemmung funktionieren, kann die Einkommens-entwicklung der in der Lanidwirtschaft verbleibenden Arbeitskräfte hinter der allgemeinen Entwicklung nicht zurückbleiben“ (H. Weber). In der Tat sind aber solche Hemmungen gegeben. Sie sind von schwerwiegender Bedeutung für die Situation der Landwirtschaft in einer In-dustriegesellsdhaft. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit die Agrarpolitik ihrerseits zur Beseitigung der Hemmungen und damit der Anpassungsschwierigkeiten beitragen kann.

Neue Leitbilder!

Die gegenwärtige Landwirtschaftskrise wird nur durch Orientierung an neuen agrarpolitischen und agrarsoziologischen Leitbildern — mehr oder weniger losgelöst von den traditionellen Werten — überwunden werden können. Nach Herbert Kötter, einem i der bekanntesten Agrarsoziologen, soll das neue Leitbild aus einer Kombination von steigendem Einkommen, sozialer Sicherheit und Freiheit bestehen. Er vertritt den Standpunkt, je entschiedener man sich von der tradi-tionalen Struktur abwende, desto eher werde man imstande sein, junge, aktive Berufsangehörige für die Landwirtschaft zu gewinnen. Im Mittelpunkt der Landwirtschaftspolitik muß daher die Erziehung und Schulung eines unternehmerischen Bauern stehen. Der arbeitsintensive, auf Selbstversorgung ausgerichtete Familienbetrieb gehört der Vergangenheit an. Dem maschinen- und kapitalintensiven Betrieb, der für den Markt liefert, gehört die Zukunft. Nur der unternehmerische Bauer wird auch ein freier Bauer sein können.

Da der internationale Großmarkt immer mehr für die Absatzsituation bestimmend wird, bedarf es eines unternehmerisch orientierten Landwirtes, um durch Rationalisierung, Betriebsumstellung und Produktivitätssteigerung ein ausreichendes Einkommen zu erzielen, die Disparität zu überwinden und schließlich die Landwirtschaft zu einem wettbewerbstüchtigen Wirtschaftspartner in der Marktwirtschaft zu machen.

Zunächst aber handelt es sich darum, diese Zusammenhänge und Zwangsläufigkeiten zur Kenntnis zu nehmen und sich“ Ihrer Bedeutung >ewußt zu werden.

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