Politiker in der Krise

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Die politische Klasse ist auf Machterhalt und den nächsten Wahltermin fixiert. Da bleibt keine Zeit mehr für wirkliche politische Führungsqualitäten.

Politik ist in Europa überhaupt müde geworden", stellte Alt-Bundeskanzler Vranitzky kürzlich in einem Kurier-Interview fest. Es gibt viele Belege und Indizien dafür, dass die politische Klasse in den eu-Ländern - und angesichts der im Sturzflug befindlichen Popularitätsraten von Präsident Bush Jr. gilt das in noch größerem Ausmaß für die usa - in den letzten Jahren immer mehr an politischer Gestaltungs-und Überzeugungskraft verloren hat.

In den europäischen Staatskanzleien wird nicht mehr regiert, sondern lediglich reagiert. Die Bevölkerung hat den Eindruck, dass die Politiker sich einfach nicht um ihre wirklichen Probleme kümmern. Viele Wählerinnen und Wähler lassen sich in dieser Atmosphäre von politischer Missstimmung und Misstrauen von rechtspopulistischen Parteien blenden und politisch verführen. Die Attraktivität und Strahlkraft dieser von dubiosen Caudillos à la Jörg Haider geführten rechtspopulistischen Parteien verflüchtigt sich zwar sehr rasch, wenn sie politische Verantwortung übernehmen. Ein großer Teil der getäuschten und enttäuschten Protestwähler ist aber nicht mehr für ein staatsbürgerliches Engagement zu gewinnen. In vielen Wahlgängen, ganz extrem in den Wahlen zum Europäischen Parlament, werden die Nicht-Wähler zur stärksten politischen Formation.

Politisches Leadership fehlt

Diese Entwicklung einer tief gehenden De-Legitimierung der politischen Klasse in den meisten eu-Ländern wird von Journalisten, Sozialwissenschaftlern und zur Selbstkritik fähigen Politikern auf das Fehlen von überzeugenden politischen Persönlichkeiten, auf den Mangel an "politischem Leadership" zurückgeführt. Im Unterschied zu den "Hochphasen" der europäischen Integration, in denen es "europäische Führungspersönlichkeiten" gegeben habe, die dazu fähig und bereit waren, "große europäische Projekte" zu konzipieren und diese in einer langfristigen Perspektive politisch umzusetzen, seien die europäischen Politiker zurzeit vor allem auf Machterhaltung und auf den nächsten Wahltermin fixiert, meinte etwa der frühere eu-Kommissar Franz Fischler in der Presse.

Dieses Fehlen von weitsichtiger gestalterischer Politik und politischer Verantwortung für die Zukunft - die Politikwissenschaft hat hier das Konzept des "transforming Leadership" entwickelt (siehe Seite 22) - manifestiert sich in der tiefen Krise der eu-Politik, in der zunehmenden eu-Skepsis der Bevölkerung und in der Blockierung der eu-Verfassung. In Brüssel und in den Regierungen der eu-Mitgliedsländer fehlen Ansätze zu einer positiven gestalterischen Politik, mit der das von der Mehrheit der Menschen gewünschte Modell eines europäischen Wohlfahrts-und Sozialstaats im Kontext eines vom Finanzkapital und von neoliberalen Vorstellungen dominierten Globalisierungsprozesses abgesichert und weiterentwickelt werden kann.

Diese inhaltliche Krise der Politik in Europa wird durch eine Krise der "politischen Form", das heißt der Art und Weise, wie die Politiker agieren und öffentlich auftreten, verschärft. Die Arbeits-und Existenzbedingungen der politischen Klasse haben sich in den letzten 10 bis 15 Jahren deutlich verschlechtert. So hat die enorme Zunahme der Zahl von Konferenzen, Komiteesitzungen und Gipfelgesprächen, die in Brüssel, aber auch in anderen europäischen Städten stattfinden, die Unterlagen, die ständig produziert werden zu einer Intensivierung des Zeit-und Arbeitsdrucks geführt, die wirkliche Beschäftigung mit inhaltlichen Fragen immer weniger möglich macht.

Kontakt mit Realität fehlt

So beschreibt Hans Magnus Enzensberger in einem Essay mit dem Titel "Erbarmen mit den Politikern" anschaulich das "Elend" der Politikerkaste: "Politik (ist) als Beruf das Reich des Immergleichen, der erbarmungslosen Wiederholung." Die "Haupttätigkeit eines Politikers (besteht) zweifellos darin, dass er an Sitzungen teilnimmt. Alles sitzt." Die Isolation von der Realität - je höher die politische Position, desto größer ist die Zahl der Sekretäre und Referenten, die die Informationen filtern - drückt sich auch darin aus, dass "nicht nur dem Politiker (vieles) entgeht, er darf auch nichts äußern. Es ist ihm allenfalls im engsten Kreis erlaubt, mitzuteilen, was er denkt, wenn er denkt. Andererseits darf er auch nicht schweigen. Vielmehr verlangt man von ihm, dass er ständig redet."

Hans Magnus Enzensberger schildert hier in überpointierter Weise die durch Bürokratisierung, Beschleunigung und Technisierung bedingte Tendenz zur Gefährdung "authentischer Politik" und eines demokratischen öffentlichen Raumes. In der Politik in Europa dominiert ein Typ von "Berufspolitiker, (der) in aller Regel ein Mensch ohne Beruf ist". Hinzu kommt, dass die heutigen Politiker als Mitglieder der Nachkriegsgeneration - mit wenigen erfrischenden Ausnahmen wie Joschka Fischer, der zumindest an einer sozialen Bewegung, der Studentenrebellion von 1968 aktiv teilgenommen hat - auch keine historische Krisenerfahrung mehr besitzen.

"Inneres Geländer" fehlt

Durch die "Gnade der späten Geburt" haben sie zum Unterschied zur Generation der Politiker wie Mitterand, Brandt und Kreisky nicht "Armut, Krieg und Flucht erlebt" (so der Spiegel-Journalist und Buchautor Jürgen Leinemann). So fehlt ihnen für ihre politische Tätigkeit eine Art "inneres Geländer", ein klares Wertesystem, das es ihnen möglich macht, den Verführungen der Macht und zur individuellen Bereicherung sowie die Sucht nach Dauerpräsenz in den Medien und in der Öffentlichkeit einigermaßen zu widerstehen.

Ich meine, dass in dieser grundsätzlicheren Sicht die Krise von Politik und Politikern, an der die österreichische Politik krankt, besser erkannt und vor allem zielführender öffentlich diskutiert werden kann. Da ist vor allem das Versagen in der österreichischen eu-Politik. Das Desaster der Transitpolitik oder das Schwächeln der Osteuropa-Politik sind Beweis dafür, dass es der politischen Klasse, das gilt ganz besonders für die övpfpöbzö-Regierungen seit 2000, nicht gelungen ist, Österreich in den ersten zehn Jahren der eu-Mitgliedschaft erfolgreich zu positionieren.

Der lange Atem fehlt

Die politische Klasse in Österreich - und man sollte sie wirklich schonen und sie nicht als politische Elite bezeichnen - besteht zum größten Teil aus Berufspolitikern, die seit ihrer Adoleszenz an ihrer politischen Karriere arbeiten (was sich unter anderem darin ausdrückt, dass die meisten Regierungsmitglieder und Parteivorsitzenden in Österreich sich vom Dienst im österreichischen Bundesheer drücken konnten, so waren Kanzler Schüssel "aus öffentlichen Interesse", Finanzminister Grasser wegen "Gastritis" und der spö-Parteivorsitzender Gusenbauer wegen "schwerer Allergie" vom Präsenzdienst freigestellt).

Durch die hegemoniale Bedeutung der Parteiorganisationen und der Verbände für den individuellen Aufstieg der Politiker dominiert eine im Vergleich mit anderen europäischen Ländern deutlich regressive Tendenz zur Besetzung von einflussreichen Positionen und Versorgungsposten mit Parteigängern. Besonders deutlich kommt das in der "Einfärbung" der Ministerien und des orf durch Volkspartei und fpö/bzö seit 2000 zum Ausdruck. Das Interesse an einer offenen Thematisierung von politischen Grundfragen (siehe Neutralitäts-Diskussion) ist gering. Und nicht ohne Grund wird Kanzler Schüssel von den Journalisten als "Schweigekanzler" apostrophiert.

Vor allem durch die Medialisierung wird den heutigen Politikern aber auch der lange Atem für transforming leadership genommen. Jenen langen Atem, um unpopuläre Phasen durchtauchen zu können, den politische Persönlichkeiten anderer, früherer Schule hatten und mit dem sie Grundlegendes leisten und in den politischen Prozess wirklich formend eingreifen konnten. Und was bleibt für das Heute: Erbarmen mit müden Politiker und Erbarmen mit dem wahlmüden Volk? - In diesem Fall stimme ich eher dem jüdischen Sprichwort zu: "Erbarmen kann Grausamkeit sein."

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Uni Wien.

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