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Digital In Arbeit

Pragmatisch vorgehen

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Die Diskussion um die Grundsicherung berührt nicht nur das Sozialsystem, sondern das Wertgefüge unserer Gesellschaft als Ganzes.

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Die Diskussion um die Grundsicherung berührt nicht nur das Sozialsystem, sondern das Wertgefüge unserer Gesellschaft als Ganzes.

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In der derzeitigen Diskussion um die Grundsicherung gibt es drei Hauptargumentationslinien. Die erste ist, zu sagen, wir haben ein funktionierendes System des sozialen Ausgleichs, die Sozialversicherung. Für jene geringe Zahl von Menschen, die nicht in die Sozialversicherung integriert sind, gibt es die Sozialhilfeleistungen der Länder und Kommunen. Die zweite Argumentationslinie geht davon aus, daß unser bürokratisches wohlfahrtsstaatliches System grundsätzlich ein ungeeignetes ist, das unnötige Leistungen anhäuft und zudem die freie Entfaltung der Wirtschaftskräfte behindert. Aus dieser Richtung werden umfassende Reformkonzepte vorgelegt, die eine Versorgung auf einem Mindestniveau für alle garantieren und andere Sozialleistungssysteme weitgehend ersetzen sollen.

Die dritte Argumentationslinie, der auch ich mich anschließen möchte, geht davon aus, daß unser bestehendes Sozialsystem, das wichtige Funktionen des sozialen Ausgleichs erfüllt, im Prinzip so modifiziert werden kann, daß es einen Mindestlebensstandard für alle Bürger garantiert. Das würde bedeuten, daß all jene Personen, die im Rahmen der Arbeitslosenversicherung, der Krankenversicherung und ähnlicher Systeme Leistungen erhalten, die unter dem Existenzminimum liegen (in Osterreich könnte man sich dabei am Ausgleichszulagenrichtsatz in der Pensionsversicherung von 7.887 Schilling orientieren), eine ergänzende Leistung erhalten. Im Gegensatz zu derzeitigen budgetpolitisch motivierten Reformbestrebungen wird dabei nicht die Versicherungskomponente in der Sozialversiche1 rung verstärkt, sondern werden Elemente eines sozialen Ausgleichs als Basisleistung eingeführt. (Auch im Rahmen der Sozialhilfe der Bundesländer, die derzeit neun unterschiedliche Grenzen für das Existenzminimum kennt, sollte es einheitliche Mindestgrenzen geben.)

Die Höhe des Existenzminimums muß natürlich gemäß der Zahl der Personen variieren, die von diesem Betrag leben müssen. Notwendig ist auch mitzubedenken, daß es Sonderrisiken, wie beispielsweise Pflegebedürftigkeit gibt, die nicht über ein System der Grundsicherung abgedeckt werden können. Gleichzeitig muß das Sozialsystem finanzierbar bleiben: Im oberen Leistungsbereich werden einige Leistungen zurückgenommen werden müssen.

Die Frage der Grundsicherung sollten wir - so wichtig die grundsätzliche Debatte um unser Sozialsystem auch ist - im Interesse der wachsenden Zahl von Menschen, denen nicht genügend Mittel zum Leben und zum Mittun in der Gesellschaft bleiben, pragmatisch angehen: Was kann in den nächsten zehn Jahren erreicht werden? Was können die Sozialpartner dazu beitragen? Welche Institutionen können konkrete Modelle berechnen? Wie können bürokratische Hürden in einem derartigen System auf ein Minimum reduziert werden?

Vorrangig ist wohl die Frage, wie politisch Verantwortliche von der Notwendigkeit dieser Diskussion überzeugt werden können.

Daß diese Diskussion mehr als notwendig ist, zeigt die Erfahrung jener Organisationen, die mit Menschen zu tun haben, die durch das soziale Netz durchfallen. In die Sozialberatungsstellen der Caritas kommen alleinerziehende Mütter, Familien mit mehreren Kindern, Menschen, die nach dem Verlust der Arbeit am Rand ihrer Existenz stehen, Langzeitarbeitslose, die von ihrer sozialen und physischen Leistungsfähigkeit her beschränkt sind, Jugendliche, die nach der Pflichtschule keine Arbeit finden. Die Armut zeigt sich hier als ein Phänomen, das nicht mehr nur eine kleine Gruppe von Menschen betrifft, sondern sehr schnell auch für Menschen der unteren Mittelschicht zur Lebenswirklichkeit werden kann.

Durch das Sozialsystem durchzufallen heißt in Zahlen ausgedrückt beispielsweise, daß 1996 annähernd 60 Prozent der arbeitslosen Frauen ein Arbeitslosengeld unter dem Existenzminimum erhalten haben, bei den Männer waren es 20 Prozent. Durch das Sozialsystem durchzufallen heißt aber auch, Sozialhilfeleistungen der Länder aus Unwissenheit, Schamgefühl, oder wegen bürokratischer Hemmnisse nicht in Anspruch zu nehmen. Aus einer Untersuchung von Nikolaus Dimmel wissen wir, daß im Raum Salzburg 1993 der Berechtigtenkreis l,7mal so groß war wie die Zahl der Sozialhilfeempfänger.

Diese Fakten haben damit zu tun, daß unser System der sozialen Sicherheit an der Erwerbsarbeit und an geleisteten Beitragsmonaten anknüpft und für den einzelnen dann gut funktioniert, wenn er über einen entsprechend langen Zeitraum ausreichend hohe Beiträge leistet. Die Entwicklungen am Arbeitsmarkt gehen aber derzeit klar in die entgegengesetzte Bichtung. Die sogenannte lebenslange Normalerwerbsbiographie hat nicht mehr die Dominanz wie früher, atypische Arbeitsverhältnisse und Arbeitslosigkeit sind Teil der Krise des Arbeitsmarktes und damit des daran anknüpfenden Sozialsystems.

Eine soziale

Grundsicherung kann ein Teil der Krisenbewältigung sein. Sie kann auch möglich machen, daß gesellschaftlich wertvolle Arbeit außerhalb des Arbeitsmarktes entsprechend abgesichert wird. Sie kann aber einschneidende Reformen am Arbeitsmarkt nicht ersetzen.

Es entspricht der Würde des Menschen, so weit wie möglich selbst durch Erwerbsarbeit für seine soziale Absicherung zu sorgen und so auch seinen Beitrag in der Gesellschaft geben zu können. Deshalb dürfen wir uns nicht damit abfinden, daß jene, die außerhalb des Arbeitsmarktes stehen, mit Transferleistun -gen versorgt werden.

Hier ist politischer Wille und eine Umorientierung in der Wirtschaft gefragt, wenn es darum geht, die vorhandene Arbeit besser aufzuteilen und neue Arbeitsfelder zu erschließen.

Die soziale Grundsicherung ist also eine Diskussion, die nicht nur das Sozialsystem, sondern die Gesellschaft als Ganzes betrifft.

Sie ist wieder ein Anlaß, die Frage zu stellen, an welchen Kriterien wir heute und morgen die Reife unseres Landes messen wollen. Sind es nur Budgetkennzahlen und AVirt-schaftsdaten? Oder wollen wir uns auch daran messen, welche Rahmenbedingungen wir setzen, damit die Schwächeren unter uns nicht nur abgesichert sind, sondern auch die ihnen zustehenden Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten bekommen?

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