Retter des Kapitalismus

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Sein Name wird heute nur noch mit Vorbehalten genannt, obwohl seine Ideen immer wieder aufgegriffen werden. Am 5. Juni jährt sich zum 120. Mal der Geburtstag des Ökonomen John Maynard Keynes.

Ein Aufschrei ging durch Europa, als EU-Kommissionspräsident Romano Prodi vergangenen Oktober die strikten Budgetkriterien des Maastricht-Stabilitätspaktes als "dumm" bezeichnete. Insgeheim aber freuten sich vor allem Sozialdemokraten, dass endlich jemand das goldene Kalb des maximal dreiprozentigen Budgetdefizits, gemessen am Bruttosozialprodukt, hinterfragt hatte.

Seit der Erdölkrise von 1973 ist die Ära der keynesianischen Nachfrageschaffung durch Staatsintervention eigentlich vorbei. Und doch fordern gerade deutsche Politiker immer wieder die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch erhöhte Staatsausgaben im Straßenbau, bei Bahninvestitionen, bei der Ausstattung von Schulen und Universitäten - eben jene beschäftigungspolitischen Maßnahmen, die John Maynard Keynes als Reaktion auf die große Depression der dreißiger Jahre entworfen hatte.

"Sklaven eines Ökonomen"

Mit seinem Hauptwerk "The General Theory of Employment, Interest and Money" ("Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes") löste Keynes 1936 eine Revolution des ökonomischen Denkens aus. Die Vorschläge des Briten besiegelten das Ende des untätigen "Nachtwächterstaates" und begründeten die moderne Wirtschaftspolitik.

Keynes' "Allgemeine Theorie" endete mit der Feststellung: "Die Ideen der Ökonomen und politischen Philosophen, seien sie richtig oder falsch, sind mächtiger, als allgemein angenommen wird. Tatsächlich wird die Welt von kaum etwas anderem regiert. Männer der Praxis, die sich frei von intellektuellen Einflüssen dünken, sind gewöhnlich Sklaven eines verstorbenen Ökonomen."

Der Wunderknabe

Keynes wurde am 5. Juni 1883 im britischen Cambridge geboren. Sein ökonomisches Talent wurde ihm quasi in die Wiege gelegt. Sein Vater John Neville Keynes war Nationalökonom am Pembroke College, seine akademisch gebildete Mutter Florence Ada Keynes wurde später Bürgermeisterin von Cambridge.

Nach seiner Schulzeit am elitären Eton College studierte Keynes bei den damals führenden Wirtschaftswissenschaftern Alfred Marshall und Arthur Pigou am King's College. 1906 bestand Keynes die Eignungsprüfung für die britische Beamtenlaufbahn als Zweitbester des Landes - ausgerechnet in Ökonomie hatte er etwas schlechter abgeschnitten. Seine Rechtfertigung: Er habe offensichtlich mehr als seine Prüfer gewusst. Nach zwei Jahren Beamtentätigkeit im Indian Office wurde Keynes an das King's College berufen und 1911 mit der Herausgabe des renommierten Economic Journal betraut.

Kriegsdienstverweigerung

Nachdem Keynes 1913 in seinem ersten Buch die für Britisch-Indien ruinöse Bindung an den Goldstandard angeprangert hatte, trat er bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs in die Dienste des britischen Finanzministeriums. Schon damals machte sich seine Widerspenstigkeit bemerkbar: Er teilte seinen Vorgesetzten mit, dass er sich weigern würde, mit der Waffe in der Hand für Englands "verbrecherische" Kriegsziele zu kämpfen. Keynes' ziviler Ungehorsam war überflüssig - er war ohnehin für untauglich befunden worden.

Trotzdem soll der Philosoph Bertrand Russel zynisch bemerkt haben, Keynes' Aufgabe im Finanzministerium bestehe darin herauszufinden, "wie eine möglichst hohe Zahl von Deutschen zu möglichst niedrigen Kosten umgebracht werden kann".

Bereits während des Studiums war der spätere Ökonom auf die Philosophie George Edward Moores gestoßen, die im viktorianischen England alle Konventionen in Frage stellte und einem ästhetischen Nonkonformismus huldigte. Später wurde der Keynes der Liebling des abgehobenen Bloomsbury-Kreises um die Schriftstellerin Virginia Wolf. Der exklusive Londoner Zirkel, dem neben Russell auch Aldous Huxley und George Bernard Shaw angehörten, verschrieb sich der Kunst und Poesie ebenso wie der freien Liebe. Das Motto: "Nichts ist uns heilig". Auch Keynes' homoerotische Affären fielen in diese Zeit des schöngeistigen Aufbegehrens. Erst mit 42 Jahren heiratete Keynes die von ihm zeitlebens heißgeliebte russische Ballerina Lydia Lopokowa.

Das war 1925. Da war John Maynard Keynes allerdings schon weltberühmt. Denn an seinem 36. Geburtstag im Jahr 1919 war Keynes unter Protest als Chefdelegierter des britischen Finanzministeriums bei den Versailler Friedensverhandlungen zurückgetreten. Bald erschien seine Abrechnung "The Economic Consequences of the Peace" ("Die ökonomischen Konsequenzen des Friedens") und wurde zum Bestseller. Keynes prophezeite, dass die überhöhten Reparationsforderungen gegen Deutschland Europas nächste Krise heraufbeschwören würden.

Der Schwarze Freitag

Keynes' Beamtenlaufbahn war damit vorläufig beendet. 1921 veröffentlichte er seinen für die Geldtheorie so wichtigen "Treatise on Money" ("Vom Gelde") und argumentierte im Gegensatz zur neoklassischen Lehre, dass gespartes Geld aufgrund unterschiedlicher Erwartungen nicht unbedingt auch investiert, sondern unproduktiv gehortet würde. Ansonsten schlug sich Keynes in den folgenden Jahren - durchaus erfolgreich - als Versicherungsmanager und Börsenspekulant durch.

Keynes' Stunde schlug mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise am "Schwarzen Freitag", dem 25. Oktober 1929. Gemäß der herrschenden Lehre sollte das freie Spiel der Preise und Zinsen die Wirtschaft früher oder später wieder in einen Gleichgewichtszustand versetzen. Keynes' lapidare Antwort: "Langfristig sind wir alle tot."

Außerdem ging Keynes in seiner "Allgemeinen Theorie" von 1936 davon aus, dass sich dieses wirtschaftliche Gleichgewicht auch bei Unterbeschäftigung einpendeln könne, das freie Spiel des Marktes die Arbeitslosigkeit somit nicht beseitigen würde. Sein Gegenrezept: Der Staat müsse durch aktive Wirtschaftspolitik die gesamtwirtschaftliche Nachfrage erhöhen. Durch deficit spending müsse der Staat allenfalls auch Geld ausgeben, das er gar nicht habe.

Antizyklische Fiskalpolitik

Von Roosevelts New Deal der dreißiger Jahre bis zu Bruno Kreiskys Austrokeynesianismus in den Siebzigern setzte sich die "Keynesianische Revolution" in fast allen Industriestaaten durch. Erst die aus der Erdölkrise von 1973 resultierende Mischung aus Stagnation und Inflation führte zum Niedergang keynesianischer Wirtschaftspolitik. Vor allem aber sind Politiker, die ja gewählt werden wollen, besonders gut im Geldausgeben. Unberücksichtigt blieb Keynes' Warnung, dass die Kassen in wirtschaftlich guten Zeiten auch wieder gefüllt werden müssten.

Heute hat die vor allem auf den Monetaristen Milton Friedman zurückgehende neoliberale Schule Keynes' Lehre fast zur Gänze aus den Wirtschaftswissenschaften verdrängt. Eingewendet wird vor allem, dass Nachfrage schaffende Maßnahmen erst dann wirken, wenn es konjunkturell schon wieder aufwärts geht und somit Inflation verursachten. Überdies würde sich die zusätzliche Nachfrage vor allem auf Importe richten und somit allenfalls im Ausland Beschäftigungseffekte erzielen.

Eines dürfte aber gewiss sein: Ohne die keynesianische Wirtschaftspolitik im zweiten Drittel des vorigen Jahrhunderts wäre - ob nun aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen - die Sozialdemokratie geschwächt und der Kommunismus gestärkt worden. Zurecht ist John Maynard Keynes als "Retter des Kapitalismus" bezeichnet worden.

1946 erlag Keynes seinem zweiten Herzinfarkt. Als ihn der Priester auf dem Sterbebett fragte, was er zu bereuen habe, soll er geantwortet haben: "Ich hätte mehr Champagner trinken sollen."

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