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Revolutionärer Richtungswechsel

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Bernd Marin, Leiter des Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung in Wien, nahm für die FURCHE das Kapitel „Arbeitswelt und Pensionen“ unter die Lupe.

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Bernd Marin, Leiter des Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung in Wien, nahm für die FURCHE das Kapitel „Arbeitswelt und Pensionen“ unter die Lupe.

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DIEFURCHE: Im Koalitionsübereinkommen bekräftigt die Regierung die Absicherung des modernen Sozialstaates...

Bernd Marin: ...die Verwendung des Begriffes WohlfahrtsgeseZ/sc/ta/z anstatt Sozialstaat wäre mir lieber gewesen. Das hätte schon eine gewisse Akzentverschiebung signalisiert...

DIEFURCHE: In Zukunft soll mehr Augenmerk auf die soziale Bedürftigkeit gelegt werden.

MäRIN: Es heißt im Arbeitsübereinkommen, daß Doppelförderungen vermieden werden sollen. Mich wundert es, daß dabei ausdrücklich vom Familienbereich die Rede ist. Warum sagt man das nicht von jenem Bereich, in dem es Hunderttausende Doppel- und Mehrfachleistungen gibt, nämlich im Pensionssystem? Dieser Bereich ist in Wirklichkeit der höchste Kostenfaktor.

DIEFURCHE: Auch hier wird es Änderungen geben. Bei der gesetzlichen Pensionsversicherung soll das faktische Pensionsalter erhöht werden.

Marin: Alle Maßnahmen, durch die das faktische an das gesetzliche Pensionsantrittsalter herangeführt werden soll, gehen in die richtige Richtung. Sie sind teilweise aber zu unpräzise. So heißt es beispielsweise: „Einführung von Abschlägen bei vorzeitigem Pensionsantritt in Abhängigkeit von der Versicherungs-dauer ab einer Mindestgrenze der Pension“. Es wird aber nicht dazugesagt, wie hoch die Abschläge sein sollen. Da stellt sich die Frage, was ist versichersicherungsmathematisch überhaupt akzeptabel? 0,3 Prozent im Monat oder 0,5? Das macht einen Riesenunterschied. Ich habe immer das schwedische Modell befürwortet, das Abschläge von 0,5 Prozent monatlich bei Frühpensionen befürwortet. Das sind sechs Prozent im Jahr. Es steht auch nicht wirklich drin, welche Anreize für den frühzeitigen Pensionsantritt weggenommen werden sollen. Das ist aber ganz entscheidend. Ich glaube an die guten Absichten der Regierung. Und es mag auch klug sein, hier vage zu bleiben, um sich nicht noch größerer Kritik auszusetzen. Hoffentlich bedeuten diese unpräzisen Formulierungen nicht, daß doch kein entschiedener politischer Wille dahin-tersteht.

DIEFURCHE: Als harter Brocken gelten auch die geplanten Änderungen bei den Beamtenpensionen.

MARIN: : Auch hier gibt es eine Reihe von Maßnahmen zur Reduzierung der Frühpensionen, die aber ebenfalls eher vage gehalten sind. Was heißt beispielsweise „Erreichung der Höchstpension erst nach 40 Dienstjahren anstelle von derzeit 35 Jahren“. Wird es dann überhaupt keine vorzeitigen Alterspensionen mehr geben? Es könnte ja sein, daß jemand im Alter von 55 oder 56 Jahren bereits 40 Dienstjahrp hat. Kann der dann doch vorzeitig in Pension gehen oder nicht? Das geht aus dem Koalitionsabkommen nicht hervor, ist für die Betroffenen aber wichtig.

DIEFURCHE: Innerhalb der nächsten zehn Jahre soll es auch eine schrittweise Anhebung des Durchrechnungszeitraumes der Beamtenpension von fünf auf 15 Jahre geben.

MARIN: Die wird nicht zu halten sein, wenn man gleichzeitig bei den ASVG-Pensionisten auf eine Durchschnittseinkommensregelung gehen wird müssen. Mir ist nicht klar genug herausgearbeitet, daß man langfristig diese geplante Angleichung auf 15 Jahre wahrscheinlich nicht halten wird können.

Langfristig gesehen, werden die Beamten um eine Harmonisierung mit den ASVG-Pensionen nicht herumkommen. Dieses Endziel sollte allerdings schon jetzt klar sein, denn es wird viel weiter gehen, als im jetzigen Übereinkommen vorgesehen. Die Regierung strebt somit jetzt etwas an, das sicher revidiert werden muß.

Ich verstehe schon, daß ein Etappenziel wichtig ist, aber wenn man das Endziel nicht präzisiert, ist die Enttäuschung vorprogrammiert.

DIEFURCHE: Sind Sie mit den Pensionsplänen trotzdem zufrieden?

MARIN: Was die Pensionen betrifft, so geht das Koalitionsabkommen in die richtige Richtung. Ich wünsche mir eine große Konsequenz und Entschlossenheit bei der Umsetzung.

Noch vor einem halben Jahr wäre vieles undenkbar gewesen. Was fehlt, sind konkrete Vorschläge. Aber wenn die nachkommen, dann ist es gut. Die Richtungsänderung ist insgesamt ganz ausgezeichnet. Vor ein paar Monaten hätte ich nicht zu träumen gewagt, daß die Regierung so entschlossen und entschieden da dran geht. Die Umsetzung muß ebenso ernsthaft angegangen werden. Davon hängt alles ab.

DIEFURCHE: Gilt diese positive Einschätzung auch für die geplanten Maßnahmen im Bereich Arbeitswelt? Mit einer Reihe von Maßnahmen soll die Qualifikation der Arbeitskräfte entscheidend verbessert werden.

MARIN: Hier gibt es im Koalitionspapier eine im Grunde sogar revolutionäre Idee: „Für die Weiterbildung Beschäftigter sind Ansprüche auf Weiterbildungszeiten bei aufrechtem Arbeitsverhältnis (ohne Anspruch auf Bezahlung oder Urlaub) zu verankern,“ heißt es beispielsweise. Die Arbeitnehmer können Bildungsurlaub nehmen. Zwar auf eigene Kosten, aber eben doch. Wenn dieser Punkt wirklich durchgeht, so ist es ein ganz großer Schritt, der bis jetzt in der Öffentlichkeit noch gar nicht so richtig zur Kenntnis genommen wurde.

DIEFURCHE: Neben der Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten, die die Gewerkschaften so auf die Barrikaden getrieben hat, ist im Koalitionspakt auch von einer „Zurückdrän-gung der einseitigen Arbeitszeitgestaltung für den Arbeitgeber im Sinne einer Gleichberechtigung zwischen den Arbeitsvertragsparteien“ die Rede...

MARIN: Wenn die Regierung dieses Vorhaben wirklich ernst meint, dann ist das eine sehr weitgehende Entwicklung. Es soll auch eine „gesetzliche Klarstellung der Zulässigkeit von Zeitausgleich ohne Zwang für die Sozialpartner“ geben. Ich meine allerdings, da wäre ein sanfter Zwang für die Sozialpartner durchaus angebracht gewesen.

Aber prinzipiell gehen alle diese Maßnahmen der neuen Regierung in die richtige Richtung.

Das Gespräch

führte Elfi Thiemer.

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