Rückeroberung der Mitte

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Die Christdemokraten müssen sich wieder verstärkt ihrer christlich-sozialen Wurzeln besinnen und an die Traditionen der EU-Gründerväter anknüpfen. Eine Antwort auf "Der fehlende Gegenentwurf" von Rudolf Mitlöhner (Furche Nr. 50/98).

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Die Christdemokraten müssen sich wieder verstärkt ihrer christlich-sozialen Wurzeln besinnen und an die Traditionen der EU-Gründerväter anknüpfen. Eine Antwort auf "Der fehlende Gegenentwurf" von Rudolf Mitlöhner (Furche Nr. 50/98).

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"Nicht was wir gestern waren,sondern was wir morgen sein werden,vereint uns zum Staat.Die Nation ist ein tägliches Plebiszit."

Jose Ortega y Gasset In seinem aktuellen Buch über den Machtwechsel in Deutschland ("Zeit, das Visier zu öffnen", Kiepenheuer & Witsch 1998) schreibt Heiner Geißler, ehemaliger Bundesminister und Generalsekretär der CDU, die Wahlniederlage der Regierung Kohl beruhe vor allem darauf, daß die CDU Kernbereiche ihrer gemäßigten christ(lich)-demokratischen Orientierung zugunsten extremer liberalistischer Opportunitäten (z. B. Zugeständnisse an Industrielle um den Preis des Konsenses mit den anfangs kooperationswilligen Gewerkschaften im "Bündnis für Arbeit") aufgegeben und damit der SPD die sofort genutzte Gelegenheit gegeben habe, in die abgegebene "Mitte" aufzurücken und diese medial als "neu" darzustellen.

Die größte Gefahr für die CDU, sagt Geißler, bestehe darin, der SPD diese Position zu überlassen und - in Ablegung des Christentums als Inspiration und Maß für Politik einerseits und in zu enger Anlehnung an die Parteien Reagans und Thatchers andererseits - sich bedingungslos einem Wirtschaftsliberalismus (aber auch Gesellschaftskonservativismus) zu verschreiben.

Geißler schlüssig weiter: Die soziale Marktwirtschaft stamme ursprünglich keineswegs, wie heute gelegentlich suggeriert wird, von den Sozialdemokraten, sondern aus der Feder Ludwig Erhards, des Wirtschaftsministers von Konrad Adenauer (beide CDU). Alle christdemokratischen Nachkriegsregierungen schlossen sich diesem Modell an (vgl. Schuman, Raab, De Gasperi). Erst in den neunziger Jahren schworen Schröder und Blair auch die Parteien im linken Spektrum darauf ein. Ihre Vorgänger hingegen hatten noch einen marktwirtschaftlichen Sozialismus betrieben.

Der Unterschied zwischen beiden Systemen ist klar: Geht die soziale Marktwirtschaft davon aus, daß der Staat nur günstige Rahmenbedingungen zur Schaffung von Arbeit bieten muß, will der marktwirtschaftliche Sozialismus vor allem durch Anstellungen im öffentlichen Dienst (Lionel Jospin) bzw. Subventionen an marode Betriebe (Bruno Kreisky) direkt eingreifen. Der mittel- bis langfristige Erfolg letzterer Politik wird laut bezweifelt, läuft er doch auf öffentliche Verschuldung und schließlich budgetäre Sparprogramme hinaus.

Der Umstand, daß wir heute in einer "rosa" dominierten Europäischen Union leben, geht darauf zurück, daß es die Sozialdemokraten (nicht die Sozialisten) schrittweise gelernt haben, sowohl das politische Konzept der gemäßigten Mitte als auch das sozioökonomische der sozialen Markwirtschaft inhaltlich zu adaptieren bzw. medial als das ihrige auszugeben. Originär gehören beide zu den Christdemokraten (nicht zu den Konservativen), in der veröffentlichten Meinung werden sie heute aber deren Gegnern zugeschrieben.

Die Christdemokraten müssen in die Mitte zurück! Wie? Einerseits dadurch, daß sie den Sozialdemokraten den dortigen Platz streitig machen, andererseits indem sie weder die Positionen des gesellschaftlichen Konservativismus noch des wirtschaftlichen Liberalismus übernehmen, sondern sich von den Epigonen von Reagan und Thatcher abgrenzen. Was heißt das?

Soll der Platz in der Mitte gegen Sozialdemokraten "links" und Konservative "rechts" wieder erobert werden, muß man die christlich-soziale Komponente verstärken: beispielhaft in der Gesundheits-, Bildungs- und Integrationspolitik.

In der Gesundheitspolitik, einem wichtigen Teilbereich der Sozialpolitik, stehen wir heute vor im Laufe der letzten Jahre unglaublich in die Höhe geschnellten, ja weiter schnellenden Kosten - sowohl in der Prävention als auch in der Therapie. Die Folgen sind beispielsweise im europäischen Vergleich unmäßig hohe Rezeptgebühren. Für Besserverdienende kein Problem; was aber ist mit jenen mit geringem Einkommen? Ältere Menschen etwa sind im Durchschnitt öfter und schwerer krank als jüngere. Gleichzeitig verdienen sie - als Pensionisten - (zum Teil erheblich) weniger als Erwerbstätige. Sie sind also von hohen Gebühren in besonderer Weise betroffen.

Noch dramatischer wird die Lage, wenn, wie auch schon in Österreich geschehen, Menschen immer öfter auf Grund ihres höheren Alters dringend benötigte Medikamente vorenthalten werden. Der sozioökonomische Grund: die "ungünstige" Relation zwischen den Kosten des Medikaments und der Behandlung einerseits und der verbleibenden Lebenserwartung des Patienten andererseits. Der ethische Grund: Senioren seien weniger wert.

Gegenüber diesen abschreckenden Beispielen hätte die Christdemokratie, will sie glaubhaft wieder in die Mitte, im Sinne des in ihren Programmen festgelegten Wertekatalogs die dringende Verpflichtung, nicht nur in der Theorie die gleiche Würde jedes Menschen (ob alt oder jung, reich oder arm etc.) zu betonen, sondern auch in der Praxis schleunigst gesetzlich-administrative Vorkehrungen gegen die beschriebenen Tendenzen zu treffen.

In der Bildungspolitik, einem wichtigen Pfeiler der Kulturpolitik, befinden wir uns zwischen den Rädern zweier divergierender (statischer) Auffassungen: Die eine, sozialdemokratisch, definiert Bildung, wie am Beispiel des britischen Ministeriums für "Arbeit und Bildung" deutlich erkennbar, als bloßes Anhängsel der Arbeit: Bildung als Voraussetzung für Arbeit. Zweifellos besteht ein Zusammenhang zwischen Ausbildung und Beschäftigung. Werden aber die sich ständig wandelnden Bedingungen für employability zur Basis der Lehrpläne bzw. des Fächerkanons, kommt es mittelfristig zu einer Stärkung von Ausbildung gegenüber Bildung, des berufsbildenden Schulwesens zu Lasten des allgemeinbildenden, der angeblich "praxisnäheren" naturwissenschaftlichen Gegenstände gegenüber den "praxisferneren" geisteswissenschaftlichen und den vermeintlich "unnützen" künstlerischen. Geht man freilich davon aus, daß die wichtigsten Grundlagen für die Anpassung an einen sich ständig verändernden Arbeitsmarkt letztlich die Schlüsselqualifikationen Kreativität, Innovation und Flexibilität sind, würden, stringent und konsequent gedacht, gerade die künstlerischen Fächer die besten Voraussetzungen für "Beschäftigung" schaffen. Die Unterordnung von Bildung unter Arbeit ist also falsch, weil im Wortsinn kontra-"produktiv".

Demgegenüber steht der ebenso irrige konservative Ansatz, Bildung sei in erster Linie die Vermittlung des Respekts bzw. der Akzeptanz gegenüber Autorität und erst in zweiter die von Wissen. Weniger der Dialog, geschweige denn der Diskurs zwischen Lehrer und Schüler stehe im Vordergrund, sondern der Vortrag. Auch dieser Kurs steht der Entfaltung der erwähnten und sowohl im öffentlichen als auch privaten Leben so wichtigen Schlüsselqualifikationen entgegen, weil er letztlich auf unmündige Menschen abzielt. Gerade in der heutigen Informations- bzw. Kommunikationsgesellschaft sind aber Skepsis und Kritik gegenüber Autoritäten (ob an der Schule oder in den Medien) zur Bewahrung freiverantwortlichen Denkens und Handelns dringend erforderlich.

Die Chance für die Christdemokraten liegt folglich in der Verteidigung und im Ausbau kreativitäts-, innovations- und flexibilitätsfördernder Gegenstände (sei es an der Schule selbst oder in deren Kooperationen mit künstlerischen Einrichtungen), sowie des dialogischen und diskursiven Unterrichts, durch den Schüler und Lehrer die vielfältigen Begabungen dynamisch zu vertiefen lernen.

In der Integrationspolitik, wichtig sowohl in sozial- und kultur-, aber auch in sicherheitspolitischer Hinsicht, stehen wir heute vor der großen Aufgabe, die Migrationen, mit denen die reichen Staaten Europas auch in der Zukunft weiter konfrontiert sein werden, friedlich zu kanalisieren. Von den drei Varianten - Ausgrenzung, Integration und Assimilation - ist die mittlere, weil mäßigend, den anderen beiden, weil radikalisierend, vorzuziehen. "Ausländern" müssen Anreize geboten werden, sich in die vorhandenen politischen, sozioökonomischen und kulturellen Strukturen einzuleben: nicht nur durch das seitens der Europäischen Union bereits gewährte Gemeinde-Wahlrecht, sondern auch durch ein seitens des ÖGB bislang abgelehntes im Betrieb; durch die Verleihung einer zwar mit vielen, aber eben nicht allen Rechten der Staatsangehörigkeit versehenen Staatszugehörigkeit (einschließlich des Rechts auf den Bezug von Gemeindewohnungen, Erleichterungen bei Unternehmensgründungen und Verbesserungen bei Erbschaften); durch Zugangserleichterungen für staatliche Stipendien im Bildungswesen; durch die staatliche Förderung künstlerischer Initiativen zur Bewahrung der jeweiligen nationalen Autonomie oder im Dienste zwischen- und übernationaler Verständigung.

Ziel dieses Programms - das ist der springende Punkt - wäre die schrittweise gegenseitige Integration: nicht nur die der Migranten in den Einwanderungsstaat, sondern auch jene der Bewohner des Einwanderungsstaates in die Denk- und Handlungsweisen der Migranten.

Das Bekenntnis der Christdemokraten zu diesen beispielhaft genannten drei Bereichen wäre zwar nur ein erster Schritt, hätte aber immerhin Signalwirkung. Erst die tatsächliche Umsetzung dieses Programms freilich würde die Christdemokraten in der verlorenen Mitte tatsächlich wieder fester verankern.

Das bedeutete den längst fälligen Schwenk fort von Thatcher und Reagan und hin zu den Traditionen der Gründer der Europäischen Union, gleichzeitig den erbitterten Wettkampf mit den Sozialdemokraten um dieses Terrain.

Der Autor ist Publizist und Schriftsteller.

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