Die Citoyens beiderlei Geschlechts sind ohnehin keine verbreitete Spezies, aber die Freude beim Politikzuschauen ist mittlerweile auch ihnen vergangen. Auch früher war Politik zuweilen langweilig, manchmal konflikthaft, hie und da dumm, aber das gehörte dazu. Inzwischen ist sie nur noch peinlich. Das Rätselhafte an der gegenwärtigen Situation ist, dass es den Akteurinnen und Akteuren nicht peinlich zu sein scheint. Sie stellen sich vor die Kamera und erzählen eine offensichtliche Lüge; und sie wissen, dass alle wissen, dass es eine Lüge ist. Vorige Woche das Gegenteil behauptet - ein bloßes Missverständnis. Inserate in Auftrag gegeben - niemals, gar nicht zuständig. Ein mieser Untergriff gegen die andere Partei - Sorge und Gemeinwohlstreben zwingen dazu.
Eigentlich denkt man sich, die handelnde Person müsste in den Boden versinken vor Scham, stottern und schwitzen, sich in der Toilette verbergen und nie wieder herauskommen. Spiegel abschaffen, damit man sich nicht versehentlich ins eigene Gesicht sehen muss. Oder sind sie als kühle, zynische Strategen über all das erhaben? Von der Art: Wir wissen, was beim Volk reingeht. Sein Gedächtnis ist kurz. Seine Informiertheit ist gleich null. Bei Machiavelli nachschlagen. Oder ist es noch einmal ganz anders: Nehmen sie gar nicht wahr, was für die meisten Beobachter auf der Hand liegt? Sind sie "wahrheitsmäßig unmusikalisch“? Schon so lange Zeit im politischen Geschäft, dass sie Anstand und Wahrhaftigkeit nicht nur abgestreift haben, sondern dass für sie die Existenz solcher Kategorien gar nicht mehr vorstellbar ist?
Aber vielleicht ist es ohnehin der Fall, dass sie alle, aus Peinlichkeit sich selbst gegenüber, nicht mehr schlafen können. Unausgeschlafen können sie aber nicht regieren. Huch - vielleicht sind wir da doch auf eine Erklärung gestoßen …
* Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Graz
