Schlechte Noten für Indien

Werbung
Werbung
Werbung

Indien gilt als Musterknabe der Globalisierung und wird neben China als neue Wirtschaftssupermacht gehandelt. Der über die Grenzen des Subkontinents hinaus bekannte CT Kurien aus Madras widerspricht.

Nein, die Mehrheit der Inder profitiere nicht von dem wirtschaftlichen Reformkurs, den sein Land seit gut 15 Jahren verfolge. Traurig sieht er aus und ernst, wie er da am Esstisch sitzt im Apartment einer schicken Wohnresidenz in Bangalore: ct Kurien, ehemaliger Direktor des Madras Institute for Development Studies. Seit den siebziger Jahren prägte Kurien die Diskussionen um die Entwicklung Indiens mit. Mitte der neunziger Jahre analysierte er noch ausführlich Indiens Weg in den Weltmarkt. Einen Weg, für den er keine guten Noten verteilen will. Und das, obwohl er nun in Bangalore wohnt, also dort, wo das so genannte indische Wirtschaftswunder augenscheinlich die herrlichsten Blüten treibt:

Während das indische Silicon Valley Mitte der Neunziger nur einfache Programmiertätigkeiten für den Weltmarkt erbrachte, ist nun Business Process Outsourcing das neue Zauberwort: Große Konzerne lagern Buchhaltungs-, Service-, aber auch komplexe Entwicklungsabteilungen nach Indien aus. Grund dafür sind die billigen Arbeitskosten der gut ausgebildeten indischen Computerfachkräfte.

Zauberwort: Outsourcing

Nach einem McKinsey-Bericht ist Business Process Outsourcing die am schnellsten wachsende Branche in Indien, die bis zum Jahr 2008 für rund dreißig Prozent der indischen Exporterlöse aufkommen soll. Die Wirtschaftspresse jubelt über jährliche Wachstumsraten von aktuell sechs bis sieben Prozent für die gesamte indische Wirtschaft. Die kaufkräftige Mittelschicht wächst nach inoffiziellen Schätzungen um rund 15 Prozent jährlich: Das sind die oftmals jungen, gut ausgebildeten Inderinnen und Inder, die mehr als 2000 Euro im Jahr verdienen. Diese Inder sind es, die man in den neuen Einkaufszentren und schicken Cafés sieht, durch welche die indischen Großstädte sich immer mehr dem Aussehen globaler Metropolen angleichen.

Kurien lässt sich von der Stadt um ihn herum nicht beeindrucken: "Es gibt den Anschein von Wohlstand." Kurien spricht langsam und unaufgeregt; vielleicht sogar ein bisschen müde. "Es gibt mehr Waren und in den Städten wohl auch mehr Beschäftigung, aber auf dem Land: nichts dergleichen." In der Tat wohnen und arbeiten über siebzig Prozent der gut eine Milliarde Inder auf dem Land. Die neue Zeit erkennt man hier allenfalls daran, dass es mehr Telefonanschlüsse gibt und selbst auf dem Land die Handys piepsen. Ansonsten sieht es weitestgehend noch so aus wie vor 15 Jahren, als Indien den Weg in den Weltmarkt suchte.

Achillesferse Erdöl

Im Januar 1991 musste Indien einen großen Kredit beim Internationalen Währungsfonds aufnehmen - die Devisenreserven waren fast gänzlich aufgebraucht: Vor dem Golfkrieg von 1991 war das Erdöl teurer geworden und der Außenhandel mit den ehemaligen Ostblockstaaten zusammengebrochen. Bis dahin hatte Indien Importe und Kapitalzufluss stark begrenzt. Ziel der Wirtschaftspolitik war ein hohes Maß an Autarkie. Was auch gelang: Vom Reis bis zum Atomkraftwerk wurde fast alles Lebenswichtige im eigenen Land produziert. Achillesferse aber war das Öl, das importiert werden musste. Seit 1991 verfolgt Indien nun einen Kurs der Weltmarktintegration. Der damalige Wirtschaftsminister und heutige Premierminister Manmohan Singh setzte harte Reformen durch: Abwertung der Rupie um Exporte zu fördern, Abschaffung von Importbeschränkungen, Joint-Ventures mit heimischen Firmen wurden gefördert, Einkommens-und Unternehmenssteuer gesenkt, um ausländisches Kapital anzuziehen.

Die Armen traf besonders der dramatische Anstieg der Lebensmittelpreise in den ersten Jahren der Reform. Trotzdem gehört es zum Standardrepertoire der Wirtschaftspresse, über die zurückgehenden Armutszahlen zu jubeln. Aber die Zahlen sind nicht so überzeugend, wenn man sie mit den Zahlen vor der Liberalisierung vergleicht: Bereits seit den siebziger Jahren nahm die Zahl der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, ständig ab. Nach den Reformen sei dieser Prozess aber langsamer verlaufen, urteilt die Ökonomin Jayati Ghosh von der Nehru-Universität in Neu-Delhi. Auch habe sich die Kluft zwischen Armen und Reichen vergrößert.

Und Kurien weist darauf hin, dass Armut nur am Einkommen gemessen würde. Was aber, fragt er, wenn eine Familie, um dieses Einkommen zu verdienen, mehr Geld für Transport und Kleidung ausgeben müsse? Die entscheidende Frage sei doch, ob nun mehr Inder besser ernährt würden: "Leider ist die Antwort darauf: Nein."

Der un-Bericht über die Millenniumsziele im asiatisch-pazifischen Raum weist darauf hin, dass der Anteil der mangelernährten Inderinnen und Inder zwar prozentual gesehen schwach abgenommen habe, in absoluten Zahlen aber gestiegen sei: Waren es 1991 noch 217 Millionen Menschen, so stieg deren Zahl bis 2001 auf 222 Millionen.

Und noch etwas stellt das indische Wirtschaftswachstum in ein ambivalentes Licht: Nach 1991 sind deutlich weniger Arbeitsplätze geschaffen worden als in den Jahren davor. Der Einsatz neuer Technik in der Landwirtschaft erforderte weniger Arbeitskraft, erklärt Jayati Ghosh. In den Städten habe die öffentliche Hand weniger Menschen eingestellt und viele kleine Unternehmen konnten der neuen Konkurrenz nicht standhalten. Wer also die neuen Arbeitsplätze bei den großen Konzernen lobt, sollte auch sehen, welche Arbeitsplätze durch die Reformen oder die wachsende Konkurrenz verloren gehen.

Kurien ist nicht prinzipiell gegen die Weltmarktintegration Indiens, aber er meint, sein Land hätte sich vorsichtiger dem Weltmarkt öffnen sollen. Indien hätte darauf bestehen müssen, dass Investitionen aus dem Ausland auch dem Land zugute kommen.

Niedrigste Steuerquote

"Gib den Leuten eine Chance, in den Wettbewerb zu gehen", sagt Kurien. Das könnten sie aber nicht wenn sie hungerten. Es sei nach wie vor unerlässlich, dass der Staat massiv in Bildung, Gesundheit und Lebensmittelsubventionen investiere. Sonst blieben die Armen weiter abgehängt vom wirtschaftlichen Erfolg Indiens. Der finanzielle Spielraum dafür ist allerdings gering, denn Indien hat infolge der Steuersenkungspolitik eine der niedrigsten Steuerquoten weltweit - deutlich unter oecd-Durchschnitt. Immerhin wird das in der öffentlichen Diskussion inzwischen als Problem erkannt: Wenn man zu den Industrieländern aufschließen wolle, müsse der Staat mehr Geld zur Verfügung haben. Der Markt regle doch nicht alles allein. Das sei in Europa nicht anders gewesen, erinnert Kurien. Auch dort sei die heimische Wirtschaft lange geschützt worden durch Zölle, Subventionen oder Kapitalverkehrskontrollen - und wird es zum Teil bis heute. Dass der Westen über die Welthandelsorganisation oder den internationalen Währungsfonds eine weitgehende Öffnung der indischen Wirtschaft forcierte, hält Kurien nicht für hilfreich: "Das habt ihr auch nicht getan, als ihr so weit wart wie wir."

Der Autor ist freier Journalist.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung