Seelische Grundsicherung

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Zur Debatte um den Sonntag: Ein Plädoyer für Unterbrechung und Entschleunigung.

Wer waghalsige Trapez-und Hochseilakte will, der sollte auch ein Netz aufspannen, um die durch die Luft Wirbelnden im Falle eines Fehltritts oder-griffs vor dem Schlimmsten zu schützen. Das ist die Philosophie der sozialen Marktwirtschaft. Man kann freilich auch der Meinung sein, dass das Spektakel erst daraus seinen Reiz beziehe, dass es auch "wumm" machen kann: die Möglichkeit des harten, potenziell tödlichen Aufpralls steigert den Kitzel für Artisten wie Publikum. Das ist die Sichtweise der Hardcore-Liberalen (nicht des Neoliberalismus - der war ursprünglich eine Gegenposition zum Laissez-faire-Liberalismus des 19. Jahrhunderts).

Unser Leben in hochkomplexen, durch globalisierte Technologie und Ökonomie geprägten Gesellschaften ist mit der Zirkusartistik durchaus vergleichbar: es ist riskant, aber auch faszinierend. Kaum jemand will Hochseilakte verbieten und nur noch Bodenturnen erlauben - jedenfalls hält das niemand wirklich für möglich: einen "Ausstieg" aus der modernen Welt gibt es nicht. Die Geister scheiden sich an der Frage des Netzes: am Boden aufgebreitet, ist seine Wirkung gleich null; direkt unter dem Trapez dicht geknüpft, nimmt es die Motivation, sich hochzuschwingen. Das "richtige" Dazwischen zu finden, ist Sozialpolitik; darum wird immer neu in Theorie und Praxis gerungen, derzeit beispielsweise zwischen Martin Bartenstein und Erwin Buchinger (siehe auch Seite 8). Es geht um die Ausgestaltung eines Netzes, welches nicht die Anmutung einer Hängematte hat - aber Abstürze glimpflich enden lässt: Grundsicherung ist ein gutes Wort dafür. Es erinnert daran, dass es ohne ein gewisses Maß an Sicherheit keine Freiheit gibt.

Das gilt indes nicht nur im materiellen Bereich - es braucht auch so etwas wie eine Grundsicherung für die Seele. Während aber die Idee eines finanziellen Sicherheitsnetzes politisch Wurzeln zu schlagen beginnt, werden unsere immateriellen Netze immer schleißiger und löchriger. Sie haben sich überlebt, sagen wir, sie sind unansehnlich geworden, eigentlich stören sie - wollen wir sie nicht besser entsorgen? Traditionen, gemeinsame Werte, familiärer Zusammenhalt sind hier zu nennen. Und es gibt einen Tag, der für all das - so unterschiedlich es im einzelnen interpretiert werden kann - gleichsam als Chiffre steht: den Sonntag.

Seit geraumer Zeit schon ist der Sonntag unter Druck geraten; zuletzt, angesichts des florierenden Weihnachtsgeschäfts, ist der Gesang wieder mächtig angeschwollen: Gebt den Sonntag doch endlich frei! Verwiesen wird immer auf zahlreiche Branchen, in denen Sonntagsarbeit unverzichtbar ist: die Freizeit, aber auch die Gesundheit, Sicherheit der einen ist der Dienst der anderen. Gewiss, aber es ist Sonntagsdienst - und der ist (auch jenseits der finanziellen Abgeltung) nicht ein Dienst wie jeder andere, eben weil der Tag ein besonderer ist. Ihn einzuebnen, käme einem gewaltigen Kulturbruch gleich: Er bezieht seine Qualität aus der Differenz zur Geschäftigkeit, um das Bild des Anfangs aufzugreifen: zu den Trapezakten des Alltags. Er bedeutet Unterbrechung, Innehalten, Entschleunigung. Das ist selbst für die zu spüren, denen das an dem einen oder anderen Sonntag aus welchen Gründen immer verwehrt ist.

Am leichtesten lässt sich der Sonntag natürlich religiös begründen - als "erster Tag der Woche", als "siebenter Tag" der Ruhe. Diese Begründung erschließt sich freilich nicht jedem - und nicht jeder will sie diesem Tag geben. Doch die Bedeutung eines solchen Tages der Differenz geht weit über den Bereich des Religiösen (wenngleich darin wurzelnd) hinaus. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann hat vor einigen Jahren schon einen gleichsam säkularen Begriff des Sonntags entwickelt; dieser lasse sich, so Liessmann, schlicht bei einem Spaziergang durch die Innenstadt am Sonntag (im Vergleich zu einem Wochentag) verifizieren.

Ist der Sonntag zu halten? Dem Anschein nach spricht alles dagegen. Die entscheidende Frage ist, ob dieser Anschein genügend Menschen motiviert, in Wort und Tat für diesen Tag einzutreten. Oder merken wir das Fehlen eines Netzes erst, wenn wir schon im Abstürzen begriffen sind?

rudolf.mitloehner@furche.at

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