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Sorgenkind: Krankenversicherung

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Nach den Sozialversicherungsträgern und den Aerzten (siehe „Die Furche“, Nummern 39 und 41) haben heute im Rahmen der großen „Furche“-£nquete die Zahnärzte das Wort. Ihr akuter Konflikt mit den Krankenkassen (der Hauptverband hat bekanntlich die Verträge mit ihnen gekündigt) macht die Krise der Krankenversicherung vielleicht am deutlichsten sichtbar; aus diesem Grunde ist vielleicht auch der untenstehende leitrag der temperamentvollste und aktuellste in der bisherigen Diskussion. „Die Furche“

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Nach den Sozialversicherungsträgern und den Aerzten (siehe „Die Furche“, Nummern 39 und 41) haben heute im Rahmen der großen „Furche“-£nquete die Zahnärzte das Wort. Ihr akuter Konflikt mit den Krankenkassen (der Hauptverband hat bekanntlich die Verträge mit ihnen gekündigt) macht die Krise der Krankenversicherung vielleicht am deutlichsten sichtbar; aus diesem Grunde ist vielleicht auch der untenstehende leitrag der temperamentvollste und aktuellste in der bisherigen Diskussion. „Die Furche“

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III. Braucht der Kampf Opfer?

Von Dr. WILHELM BRENNER Vorsitzender der Bundesfachgruppe für Zahnheilkunde der Oesterreichischen Aerztekammer

Es scheint, daß der Kampf um die Sanierung des Sorgenkindes Krankenversicherung in seiner krisenhaften Zuspitzung Opfer sucht. Diese sollen offenbar die österreichischen Zahnärzte und Dentisten sein, die vertraglich in der Krankenversicherung tätig sind (das sind etwa 90 Prozent). Denn überraschenderweise hat der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger im Namen aller Krankenkassen hinsichtlich der erst im Vorjahr neu in Kraft getretenen Verträge auf dem Gebiet der Zahnbehandlung zum 31. Dezember d. J. den Interessenvertretungen der Zahnärzte und Dentisten Kündigungsschreiben überreicht. Die anschließenden öffentlichen Erörterungen sind den Lesern der „Furche“ bekannt.

Dabei fiel nicht nur die beachtliche Unterschiedlichkeit in der Motivierung der Ausgabensteigerung für den zahnärztlichen Behandlungssektor von einem Tag auf den anderen in den Aussendungen des Hauptverbandes auf, sondern auch der Zeitpunkt, zu dem diese ungewöhnlichen Kündigungsmaßnahmen und die Veröffentlichungskampagne über die defizitäre Entwicklung der Krankenkassen durchgeführt wurden. Es ist ja kein Geheimnis, daß auf Regierungsebene eine lebhafte Auseinandersetzung über die Behebung der Krise der Kranken-

Versicherung im Gange ist, und es gibt viele Zahnärzte und Dentisten, die sich heute wie jener Mann auf der Straße vorkommen, dem der Ziegelstein auf den Kopf fällt, den der Sturm höherer Gewalten in den oberen Regionen losgelöst hat. Daß die Zahnärzte- und Dentistenschaft unseres Landes, nachdem sie nach harten Entbehrungen und Kämpfen die schon seit langer Zeit fällige Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation erreicht hatte, nunmehr Opfer von Auseinandersetzungen politisch gegensetz-licher Kräfte werden soll, wird von vielen Angehörigen beider Berufsgruppen als arge Härte empfunden. Begreiflich daher, daß sich die Standesvertretungen der Zahnärzte und Dentisten öffentlich gegen die „unbegründeten Verdächtigungen auf das entschiedenste verwahrten“, besonders, da ja in den im Jahre 1957 abgeschlossenen neuen Verträgen ausdrücklich die Institutionen der Schlichtungsausschüsse und Schiedskommissionen vorgesehen wurden, die von den Krankenkassen hätten angerufen werden müssen, um derartige Behauptungen objektiv zu untersuchen und sie auf ihre Richtigkeit hin überprüfen zu lassen.

Die Gesamtausgaben der Krankenversicherung für die Zahnbehandlung und den Zahnersatz haben sich durch die neuen Verträge des Jahres 1957 durchaus in jenem Rahmen entwickelt, wie er bei Abschluß dieser Verträge von beiden Vertragsseiten vorgesehen wurde. Als Ergebnis der vereinbarten Tarifänderungen wurde nämlich festgestellt, daß im Bundesdurchschnitt eine Erhöhung der Ausgabensumme für diesen Sektor um etwa 64 Prozent eintreten werde. Mit dieser war insbesondere deshalb zu rechnen, weil die zahnärztlichen und dentistischen Tarife in den zurückliegenden Jahren nicht einmal jene Erhöhung erfahren hatten, wie sie von den Krankenkassen selbst den praktischen Aerzten und den übrigen Fachärzten zugestanden worden war, hier also ein besonderer Nachholbedarf bestand.

Die Kosten, die der gesetzlichen Krankenversicherung (einschließlich der Meisterkrankenkassen) für den Sektor Zahnbehandlung und Zahnersatz in den letzten Jahren erwuchsen und ihr prozentueller Anteil an den Gesamtausgaben der österreichischen Krankenversicherung zeigen — nr'.ch Angaben des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger — folgendes Bild:

1951: 118,7 Mill. S = 6,7% der Gesamtausgaben 1952: 142,2 Mill. S = 6,8% der Gesamtausgaben 1953: 155,2 Mill. S = 7,0% der Gesamtausgaben 1954: 168,2 Mill. S = 6,9% der Gesamtausgaben 1955: 193,8 Mill. S = 6,8% der Gesamtausgaben 1956: 214,2 Mill. S = 6,7% der Gesamtausgaben 1957: 240,7 Mill. S = 6,9% der Gesamtausgaben

Berücksichtigt man, daß sich seit Ende des zweiten Weltkrieges die Behandlung der Bevölkerung im Rahmen der „Sozialen Zahnheilkunde“ — zumindest im konservierenden Behandlungssektor — fast verdreifacht hat, so ist die Tatsache, daß der prozentmäßige Anteil der Ausgaben für Zahnbehandlung und Zahnersatz an den Gesamtausgaben der Krankenversicherung in dieser Zeit praktisch völlig gleich geblieben ist, zweifellos höchst beachtlich. Dies allein schon aus dem Grunde, weil jede Leistung

— auch jede gesundheitliche Leistung — im sozialen Raum immer auch in Beziehung zum jeweiligen Sozialprodukt gesetzt werden muß. Der absolute Ausgabenbetrag stieg in der Zeit von 1951 bis 1957 aber lediglich von 118,7 Millionen Schilling auf 240,7 Millionen Schilling an, das ist um nur 103 Prozent. Im Rahmen eines detaillierten prozentmäßigen Anteilsvergleichs zwischen den Jahren 1951 und 1957 zeigt sich, daß

1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 in Prozenten auf die konservierende Zahnbehandlung 4,7 4,8 4,9 4,8 4,8 4,7 5,0 auf den

Zahnersatz 2,0 2,0 2,1 2,1 2,0 2,0 1,9 der Gesamtausgaben der österreichischen Krankenversicherung entfielen.

Hieraus ergibt sich, daß von 1951 bis 1956

— trotz der beträchtlichen absoluten Zunahme des Behandlungsumfangs — ein ständiges langsames Absinken des Ausgabenanteils festzustellen und 1957 im prothetischen Behandlungssektor ein weiterer relativer Rückgang zu verzeichnen ist.

In seiner Veröffentlichung vom 2. Oktober dieses Jahres hat nun der Hauptverband der Sozialversicherungsträger erklärt, daß sich das erste Halbjahrsdefizit der Krankenkassen auf

100.5 Millionen Schilling — gegenüber 31,9 Millionen Schilling im ersten Halbjahr 1957 — belaufen habe, wobei sich die Ausgaben für Zahnbehandlung und Zahnersatz um fast 68 Millionen Schilling, das ist laut Hauptverband um 72,5 Prozent, erhöht hätten. Der Vergleich zwischen dem ersten Halbjahr 1957 und dem ersten Halbjahr 1958 ist unangebracht, denn hier wird ein vertragsloses Halbjahr (in dem die Krankenkassen vertragliche Honorare an die freiberuflich tätigen Zahnärzte und Dentisten nicht zu leisten hatten) mit einem Vertragshalbjahr kostenmäßig verglichen. Naturgemäß ergibt sich hieraus ein gewaltig überhöhter Steigerungsbetrag, der ein ganz falsches Bild ergibt (ganz abgesehen davon, daß nach Ablauf des vertragslosen Zustandes im Jahre 1957 naturgemäß ein erheblicher Behandlungsnachholbedarf bestand).

Bekanntlich kann man mit Statistik sehr vieles beweisen, und im gegenwärtigen Augenblick ist der Hauptverband offensichtlich daran interessiert, möglichst eindrucksvolle Ausgabensteigerungsprozentsätze veröffentlichen zu können. In Wirklichkeit bewegen sich die Mehrausgaben für den zahnärztlichen Behandlungssektor im ersten Halbjahr 1958 aber genau in jenem Rahmen, der bei Abschluß der Verträge im Juli 1957 von beiden Vertragsteilen ausdrücklich ins Auge gefaßt wurde. Damals wurde im Bundesdurchschnitt ein Mehrausgabenrahmen von 64 Prozent ausdrücklich vorgesehen, und das Organ des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger, die „Soziale Sicherheit“ vom Oktober 1957 (Seite 367), hat dies ziffernmäßig detailliert errechnet und in aller Oeffentlichkeit dargestellt.

Nun sollen nach Angaben des Hauptverbandes vom 2. Oktober 1958 im 1. Halbjahr 1958 für I diefnZanbharidlijg 16J„3 . Millionen Schilling t verausgabt worden sein Nationalrat Erwjn Machunze, der auch im Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger tätig ist, hat allerdings am 27. September 1958 in der „Furche“ für den gleichen Zeitraum nur den Betrag von 13 5,6 Millionen Schilling angegeben!). Nimmt man die Jahresgesamtausgaben 1958 mit dem Doppelten dieses Betrages an — das sind

322.6 Millionen Schilling —, dann ergibt sich, daß die Steigerung gegenüber den Ausgaben des letzten Vertrags Jahres (1956) - die laut Hauptverband 204 Millionen Schilling betnien — nur 57 Prozent (118,6 Millionen Schilling) ausmacht! Es bewegt sich also der Erhöhungsprozentsatz für den zahnärztlichen Sektor — trotz gesteigerter Patientenzahl — nicht unerheblich unterhalb den ins Auge gefaßten 64 Prozent. Der echte Belastungsfaktor für den Zeitraum zwischen dem 1. Jänner 1957 und dem 30. Juni 195 8 ist in Wirklichkeit aber noch viel geringer. Denn infolge des vertragslosen Zustands betrugen die Kassenausgaben für Zahnbehandlung und Zahnersatz im ersten Halbjahr 1957 nur 93,5 Millionen Schilling, während sie sich im zweiten Halbjahr, wo der neue Vertrag bereits Anwendung fand, auf 137,2 Millionen Schilling beliefen. Das zweite Halbjahr 1957 kostete also um 44,3 Millionen Schilling mehr als das erste (vwtragsiose)',H'rbjahr;“Ziettt“man diesen offenkundigen Einsparungsbetrag von den seit Juli 1957 entstandenen Mehrausgaben für den Zahnbehandlungssektor ab, dann wird klar, daß die echte Gesamtbelastung der Krankenkassen für den Sektor Zahnbehandlung und Zahnersatz im Zeitraum vom 1. Jänner 1957 bis 30. Juni 1958 gegenüber 1956 nur eine relativ geringe Steigerung erfahren hat! Es ist angesichts dieser Umstände durchaus abwegig, zu behaupten, daß das Defizit der Krankenversicherung durch Aufwendungen auf dem Gebiet der Zahnbehandlung entstanden ist. Hieraus ergibt sich aber auch, daß ein wirklicher Grund für die zahnärztlichen Vertragskündigungen nicht vorliegt. Die Sache ist vielmehr so, daß jetzt, da de facto überhaupt erst die Auswirkungen der neuen Vertragswerke in merkbarem Ausmaß aufzutreten beginnen, der Hauptverband der Sozialversicherungsträger auch bereits darangeht, sich unter Ausnützung ihm günstig erscheinender Gelegenheiten der neuen zahnärztlichen und dentistischen Verträge zu entledigen.

Jeder echte Kenner der Gebarungsentwicklung der Krankenkassen in den letzten Jahren weiß sehr gut, daß sich die defizitäre Situation der Sozialversicherung, die sich aus grundsätzlichen Momenten ableitet, bereits vor dem Jahre 1957 abzuzeichnen begonnen hat. Als im Herbst 1957 die führenden Persönlichkeiten des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger damit begannen, Hilferufe für die notleidende Krankenversicherung auszustoßen, beriefen sie sich denn auch vor allem auf Argumente wie die Grippeepidemie, die ungedeckten Behandlungskosten für die Rentner und ähnliche Dinge. Daß ein nicht unerheblicher Teil der Krankenkassen freilich schon bald nach dem Juli 1957 die neuen zahnärztlichen Verträge zu sabotieren begann, ist den Standesvertretungen der Zahnärzte und Dentisten freilich sehr gut bekannt. Die Krankenkassen der Steiermark kündigten bereits

Ende März 1958 ihre Zahnärzteverträge, und es gibt Krankenkassen, die in ihren Jahresberichten unumwunden durchblicken ließen, daß die zahnärztlichen Verträge ihrer Meinung nach nur „unter öffentlichem Druck“ zustande gekommen seien und sie daher auf eine passende Gelegenheit warteten, sie wieder aufzukündigen.

Wenn die Zahnärzte- und Dentistenschaft es auch durchaus unterstützt, daß die österreichische Krankenversicherung auf eine finanziell gesunde Basis gestellt wird, so muß sie doch jede Verantwortung für die Gefährdung der zahnärztlichen Versorgung der Bevölkerung, die seitens der Krankenkassen — entgegen ihrem gesetzlichen Auftrag — nunmehr heraufbeschworen wird, ablehnen. Da zudem seit Inkrafttreten der neuen Wertzollbestimmungen ab 1. Oktober 1958 eine beträchtliche Verteuerung der Behandlungskosten der Zahnärzte und Dentisten (Materialien, Geräte usw.) eingetreten ist, werden sich sicherlich noch Ausweitungen ergeben, die für die weitere Entwicklung von Bedeutung sein dürften. Mögen sowohl die gegen die Zahnärzte und Dentisten als gegen die Interessen der Versicherten gerichteten Maßnahmen des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger und der übrigen daran Beteiligten nicht dazu führen, daß auf einem wichtigen und — wie die Entwicklung gezeigt hat — immer wichtiger werdenden Sektor der gesundheitlichen Betreuung unserer Bevölkerung chaotische Zustände eintreten, für die die Urheber dann allerdings selbst die Verantwortung übernehmen müßten.

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