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Sorgenkind Landwirtschaft

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Mit drei Maßnahmen hat Prag im Verlauf des Jahres 1959 — die wichtigsten traten mit 1. Jänner 1960 in Kraft — sehr entscheidend in das sorgenvolle Problem der Landwirtschaft eingegriffen: mit der Neuregelung des Auf kauf-systems und der Neufestsetzung der landwirtschaftlichen Preise, mit der neuen, sehr differenzierten Besteuerung der Landwirtschaft und mit der praktischen Liquidierung der Traktorstationen. Als Begründung für diese Maßnahmen führt man verständlicherweise nicht die unbefriedigende Bewirtschaftung des Bodens, den katastrophalen Menschenmangel in der Landwirtschaft, der nur durch den Einsatz von „Brigaden“ in der Erntezeit ein wenig gemildert werden kann, und auch nicht die unbefriedigende Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte an; ganz im Gegenteil: man erklärt, „der Weg des sozialistischen Umbaues des tschechischen Dorfes, der gerade vor zehn Jahren begonnen wurde, nähert sich seinem siegreichen Abschluß“; man verweist darauf, daß nun „ein einheitliches sozialistisches System in der Volkswirtschaft“ herrsche, in dem auch die Landwirtschaft keine Ausnahme mehr darstelle. Man macht allerdings auch den innerpolitisch nicht ungefährlichen Hinweis, daß jetzt „die Interessen des einzelnen mit denen der Gesell-. schaft verbunden“ seien.

Die Neuregelung des Aufkaufsystems und die Neufestsetzung der Aufkaufpreise in der Landwirtschaft wurde in der Tagung des Plenums des Zentralkomitees der KPC am 5. und 6. Juni 1959 beschlossen und trat mit 1. Jänner 1960 in Kraft. Sie trägt den bezeichnenden Titel „Maßnahmen zur Förderung der landwirtschaftlichen Produktion und ökonomischen Festigung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften“. Zwei auf den ersten Blick günstig erscheinenden Maßnahmen stehen andere entgegen, deren Tragweite heute nur erahnt werden kann. Es fällt vor allem die Pflichtablieferung der landwirtschaftlichen Produkte weg. Einen Anreiz zu weiteren und vermehrten Ablieferungen sollen die wesentlich erhöhten Aufkaufpreise bilden, deren Gesamtniveau um 14,7 Prozent höher liegen soll als die von den Bauern und um 15,3 Prozent höher als die von den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften im Jahre 1958 erzielten Preise. Gleichzeitig werden jedoch die direkten Mittel der Staatshilfe, die allerdings nur den Kolchosen zugute kamen, sehr wesentlich eingeschränkt. Anderseits verbilligt man wieder die Strompreise (nur für landwirtschaftliche Genossenschaften!) um 25 Prozent, die Preise für Landmaschinen um 30 Prozent, die für Traktoren um 15 Prozent, die der Ersatzteile um 25 Prozent. Schließlich erhöht man die Preise der Futtermittel, schränkt aber vor allem ihre Ausgabe sehr energisch ein, um die Landwirtschaft zu zwingen, die eigene Futtermittelgrundlage zu sichern.

Die zweite Maßnahme, die mit dieser verständlicherweise in einem direkten Zusammenhang steht, ist die Erhöhung der Steuern für die Landwirtschaft, die „nicht nur die Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Einkünften der Genossenschaften ausgleichen“, sondern auch die „sozialistischen Produktionsverhältnisse vertiefen “'sollen. Die neue Agrarsteuer, die das Prager Parlament ziemlich genau einen Monat nach den oben erwähnten Maßnahmen, nämlich am 9. Juli 1959, beschloß, soll auch „keinen fiskalischen oder administrativen Charakter“ tragen, sondern ein „wirtschaftliches Instrument“ sein, das den Nationalausschüssen helfen soll, die Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion und die Festigung der Einheitsgenossenschaften (Kolchosen) zu regulieren. Die Steuer zeigt für die Kolchosen und für die selbständigen Bauern ein völlig anderes Bild. Sie beträgt in Gebirgsgegenden linear 1% der Bruttoeinnahmen, in Kartoffel-Hafer-Gebieten 1,5%, in Kartoffelgebieten 3%, in Maisgebieten 6%, in Rübengebieten 7%. Die Nationalausschüsse können aber diesen Steuersatz um 1 bis 2% senken oder erhöhen. Zusätzliche Erleichterungen erhalten die Genossenschaften der Grenzgebiete, aber auch jene Genossenschaften, 'die mehr als 12% dem „unteilbaren Fonds“ zuweisen (50% Ermäßigung!). Bei den noch selbständigen Bauern ist der Steuersatz hingegen progressiv und beträgt zwischen 5% (bei einer Steuerbemessungsgrundlage bis zu 4000 Kronen) unri 30<& (bei einer Steuerbemessungsgrundlage, die 30.000 Kronen übersteigt). Bei zwei oder mehr Kindern ergeben sich Ermäßigungen zwischen 15 und 45%, bei Kinderlosen Erhöhungen um 10%.

Aber nicht nur die Höhe der Steuer ist unterschiedlich, sondern auch die Bemessungsgrundlage, denn zu den Einkünften aus der Landwirtschaft werden alle Gelegenheitsarbeiten und die Einnahmen aus allen Nebenerwerbszweigen hinzugezählt; Beitragsgrundlage ist auch keineswegs das tatsächlich erzielte Einkommen, sondern der nach Durchschnittssätzen errechnete und vom Staat vorgeschriebene Hektarertrag für die gesamte anbaufähige Hache.

Die käufliche Übernahme der landwirtschaftlichen Maschinen von den Traktorstationen durch die Kolchosen, die weithin nicht reibungslos vor sich ging, weil die Kolchosen den schlechten Wartungszustand der Maschinen bemängelten, bedeutet praktisch eine Auflösung dieser Stationen (MTS); ihnen verbleiben in Hinkunft nur noch Maschinen für landwirtschaftliche Spezialarbeiten, ein Ersatzteillager, auch bleiben sie Bildungsstätten für die Heranbildung des Mechanikernachwuchses und Reparaturwerkstätten. Ein Großteil der Traktorfahrer und Techniker hatte mit den Maschinen zu den Kolchosen überzuwechseln.

In immer neuen Varianten werden Statistiken über den immer größer werdenden „sozialistischen Sektor“ der Landwirtschaft gebracht. Im Verlauf des Jahres 1959 wurde die Zahl der Kollektivlandwirtschaften oder landwirtschaftlichen Einheitsgenossenschaften (= Kolchosen) um weitere 400 auf rund 12.500 erhöht. Die gemeinsam bewirtschaftete landwirtschaftliche Fläche vergrößerte sich um 400.000 auf rund 4,5 Millionen Hektar; hier wirken insgesamt 912.000 Kollektivbauern. Der „sozialistische Sektor“ umfaßt in der Landwirtschaft nunmehr 82,6 Prozent des Agrarbodens; 62% machen die Kollektivlandwirtschaften aus, 1'8% die Staatsgüter. Für selbständige Bauern verbleiben 18% des Bodens.

So befriedigend dieser Zustand für das Regime — etwa im Vergleich zu Polen! — sein müßte, so werden doch immer wieder zahlreiche Bedenken und Beschwerden von offizieller Seite angeführt: so bedauert zum Beispiel das Zentralorgan der KP, das „Rüde prävo“, daß gerade in den fruchtbarsten Gebieten die Kollektivierung nur sehr langsam vor sich geht, und nennt namentlich die Gebiete von Sillein in der Ostslowakei, Ostrau, Gottwaldov-Zlin, Prag, Reichenberg und Böhmisch-Budweis. Man bedauert auch den geringeren Anteil an Kollektivbauern in der Slowakei, wo er nur 73,4 gegenüber 81,9% in den böhmischen Ländern ausmacht. Die Hauptbeschwerden richten sich aber nicht gegen das zu langsame Tempo der Kollektivierung, sondern gegen die zu kleinen Erträge und die zu geringe Produktivität der Landwirtschaft. So produzieren die an sich rentabel arbeitenden Staatsgüter, die über 13,6% des Agrarbodens (und nicht des schlechtesten!) verfügen, nur 15% der landwirtschaftlichen Produkte. Der „Mladä fronta“ rutscht es in einem Bericht heraus, daß die landwirtschaftliche Produktion nicht einmal das Vorkriegsniveau erreicht. Und wenn das Zentralorgan „Rüde prävo“ das enorme Ansteigen der tschechischen Lebensmittelexporte damit beschönigt, es sei dies „ein wichtiger Faktor des Ansteigens des Lebensstandards der Werktätigen“, so glauben dies vor allem die Prager nicht, denen man zu Weihnachten eine außerordentlich dürftige Zuweisung an Äpfeln, Orangen und Zitronen je Kopf zudiktierte, aber auch sonst-kein Mensch!

Sosehr man heute die sehr wesentlichen Neuerungen und Experimente in der Tschechoslowakei noch nicht zu werten und ihre Auswirkung richtig einzuschätzen vermag — das wird man selbst in Prag noch nicht können —, so sieht man doch heute schon, daß vor allem die neuen steuerlichen Maßnahmen praktisch das Ende der letzten kümmerlichen Reste der selbständigen Landwirte bedeuten und daß ein wesentlicher Teil dieser Bauern ihre Selbständigkeit bereits Ende 1959, also noch vor Inkrafttreten des neuen Steuergesetzes, aufgab und in die Kolchose „flüchtete“.

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