"Soziale Spannungen sind nicht ausgeschlossen"

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Bernd Marin war Mitglied des Instituts für Höhere Studien und ist seit 1988 Leiter des Instituts für Europäische Wirtschafts- und Sozialforschung in Wien. Er fordert seit Jahren eine Änderung des Steuer- und Sozialsystems.

Die Furche: Die Vorstände ATX-notierter Unternehmen verdienen das 47-fache des Durchschnittseinkommens. Ist die Empörung darüber gerechtfertigt?

Bernd Marin: Da sind Schallgrenzen des Nachvollziehbaren überschritten: Wer in wenigen Monaten mehr verdient als die meisten im ganzen Leben, erfährt Unverständnis, gerade bei "Leistungsträgern".

Die Furche: Sie selbst fordern seit Jahren einen Umbau des Sozial- und Steuersystems. Sind die sogenannten "Reichensteuern", die Teile der SPÖ fordern, ein guter Ansatz?

Marin: Theoretisch und bei Obama auch praktisch ja, nach unserer Kleinhäuslerei nein. Wenn Spitzensteuersätze für Einkommen ab 60.000 Euro eingehoben werden und nicht ab 357.000 Dollar wie in den USA oder 250.000 Euro wie in Deutschland, dann treffen "Reichensteuern" auch Mittelständler und Druckereiarbeiter, nicht hohe Einkommen und große Vermögen. Sinnvoller und wirksamer wäre, realisierte Vermögenszuwächse zu besteuern und Erwerbsarbeit deutlich zu entlasten. Das brächte mehr Steuerfairness und Steuereffizienz, Wachstums- und Beschäftigungsimpulse.

Die Furche: Damit allein würde das Steuersystem aber nicht gerechter werden.

Marin: Ein bisschen schon. Unser Steuersystem verteilt die Lasten falsch: Bis 15.000 Euro im Jahr gar keine Steuern, dann plötzlich 36,5 Prozent. Freigrenzen und Eingangssteuersatz sind viel zu hoch und benachteiligen den unteren Mittelstand. Junge berufstätige Frauen mit Kinderbetreuungsgeld verlieren bis zu 80 Cent jedes mehr verdienten Euro an den Staat. Solche extremen Grenzsteuersätze gibt es für Wohlhabende nicht. Daher: hohe Stufen abschaffen, den Anstieg verstetigen, Erwerbsarbeit massiv entlasten durch höhere Steuern auf Umweltbelastung, Energie, Vermögenszuwächse, insgesamt die Steuerquote eher herunterfahren.

Die Furche: Sollte man diese Umstellungen gleich vornehmen oder erst nach der Krise?

Marin: Niemand fordert das jetzt. Erst muss die Wirtschaft wieder anspringen.

Die Furche: Glauben Sie, dass sich die Krise so weit verschärfen könnte, dass es zu echten sozialen Spannungen kommt.

Marin: Derzeit nicht, aber wenn man nach England und Frankreich sieht, ist nichts ausgeschlossen. Entscheidend wird sein, ob die Menschen wieder Arbeit finden und Erspartes behalten. Massenarbeitslosigkeit oder Verlust von Lebensersparnissen durch Großinsolvenzen, Hyperinflation oder Währungsreform würde zu sehr ernsten Situationen führen. (tan)

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