Sozialmärkte: Hilfe oder Stigma?

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Sind Supermärkte für Arme eine geniale Idee, weil sie soziale Not und Lebensmittelüberschüsse gleichzeitig reduzieren? Oder zementieren sie unwürdige Zustände ein? Ein kleiner Überblick.

Sozialmärkte gelten als Erfolgsmodell: Firmen werfen weniger Nahrungsmittel auf den Müll, ärmere Menschen können günstig einkaufen. Und ihre Zahl nimmt zu: Mittlerweile gibt es laut RegioData 40 Sozialmärkte in Österreich. Doch die Medaille hat zwei Seiten: Probleme wie Überproduktion und Armut werden nicht an der Wurzel gepackt. "Prinzipiell gehen sie auf die Not ein, es wäre zynisch, das nicht so zu sehen“, sagt Armutsexpertin Michaela Moser. "Aber ein Supermarkt für Arme ist stigmatisierend. Außerdem sollten sich solche Märkte nicht als Lösung etablieren. Die Supermärkte und die Politik stehlen sich sonst aus ihrer Verantwortung.“

Auch die Vinzigemeinschaft betreibt Sozialmärkte. Täglich bilden sich dort Menschentrauben wie zu Kriegszeiten. Häufig kommt es zu Gedränge, Betroffene klagen, dass Milch und Brot stets rasch weg seien. Restbestände wie Energy Drinks, Gewürze oder Diätmenüs würden sich hingegen stapeln. Der Vinzimarkt in Wien-Simmering verkauft abgelaufene, außen beschädigte Ware um 30 Prozent des Normalpreises. Verschenkt wird nur Brot, betont Leiterin Angela Proksch. "Wir wollen Menschen mit geringem Einkommen kein Almosen geben, sondern ein günstiges, würdevolles Einkaufen ermöglichen“, stellt sie klar. "Abgelaufene Ware wird immer als solche gekennzeichnet und überprüft. Auch geschenkte Ware muss abgeholt, gereinigt, sortiert und für den Verkauf vorbereitet werden. Dafür entstehen natürlich auch Kosten.“

Betroffene erhalten eine eigene Einkaufskarte, mit der sie pro Woche um bis zu 30 Euro einkaufen können. Mittlerweile wurden 7240 Karten ausgestellt, täglich kommen 400 Personen vorbei. Weil das Geschäft nur 120 Quadratmeter umfasst und oftmals Menschen im Vorraum warten müssen, dürfen die Kunden lediglich in einer Richtung eine Runde drehen.

Nicht Lösung, sondern Überbrückung

Während der Vinzimarkt die Ware von Supermärkten bekommt, kauft Alexander Schiel, Gründer von drei Sozialmärkten in Wien, direkt bei Produzenten wie Manner oder Anker ein. Seine Märkte haben 30.000 Mitglieder. Nun würden auch vermehrt Mindestpensionisten kommen, die sich vorher für ihre Lage geniert hätten, erklärt er. Und: "Die Armut zu bekämpfen, ist nicht unsere Aufgabe, sondern wir helfen sozial Schwachen, die Zeit der Armut zu überbrücken.“

Ein "leuchtendes Beispiel“ gegen Stigmatisierung ist für Expertin Moser jedenfalls der "Einer für alle“-Markt von Pro Mente in Kapfenberg: Ärmere Personen haben einen Vermerk auf ihrer Kundenkarte. Sie kaufen wie alle anderen ein, bei der Kassa wird ihnen bis zu 50 Prozent weniger verrechnet. Wichtig sei auch, ob es zusätzliche Angebote wie Beratung gebe, um die soziale Lage konkret zu verändern, so Moser.

In dieser Hinsicht ist das Konzept der Wiener Tafel besser als jenes vieler Tafeln in Deutschland: Der Verein liefert "gerettete Lebensmittel“ nur an 82 Einrichtungen, wo manifest Arme professionell betreut werden, so Sprecher Markus Hübl. Versorgt werden damit 12.000 Menschen. 300 Ehrenamtliche liefern die Ware, die Supermärkte sparen sich Transport, Lagerung und Entsorgung.

414.000 Kilo "gerettete“ Lebensmittel

2011 hat der Verein 414.000 Kilogramm original verpackte und nicht abgelaufene Ware abgeholt, von Produzenten, Supermärkten, Frischemärkten, Speditionen, wo oft ganze Paletten stehen, von Landwirten, die üppige Ernten verschenken. Die Mitarbeiter gehen auch aktiv auf Unternehmen zu: "Viele Firmen haben sich dem Nachhaltigkeitsgedanken angeschlossen und sind offen. Wenn Essen nicht im Müll landet, ist das auch gut für die Außenwahrnehmung. Manche sagen aber auch, "bei uns fällt nichts an“, obwohl wir aus anderen Quellen wissen, dass das nicht stimmt“, berichtet Hübl.

Verena Wegscheider von der Lebensmittelkette Spar meint auf Anfrage der FURCHE, dass "sehr viel weniger nicht mehr verkaufbare Lebensmittel übrig bleiben, als man vielleicht glauben mag“. Bei einem großen Interspar mit 50.000 Produkten im Sortiment sei es nicht mehr als "ein halbvolles Einkaufswagerl pro Woche“. Die Firma verschenke vor allem Milchprodukte, Brot, Gebäck, Obst und Gemüse. "Die Lebensmittelbestellsysteme sind inzwischen so ausgereift, dass ein Supermarkt ziemlich genau kalkulieren kann“, so Wegscheider. "Beim Brot und Gebäck helfen uns die Backstationen. So kann Gebäck bedarfsgerecht hergestellt werden.“

Fakt ist, dass laut Institut für Abfallwirtschaft in Österreich rund 160.000 Tonnen Lebensmittel im Müll landen, allein in Wien sind es 70.000 Tonnen pro Jahr. Täglich wird hier so viel Brot als Retourware vernichtet wie nötig wäre, um Graz zu versorgen. Hübl appelliert, von Schuldzuweisungen nur in eine Richtung wegzukommen. "Die Haltung des Konsumenten, immer und überall alles zu bekommen, muss hinterfragt werden.“ Deshalb setzt die Wiener Tafel auch auf Bewusstseinsbildung. Die Kritik, nur systemerhaltend zu sein, pralle an seinem Verein ab: "Ja, es ist eine Gratwanderung, aber wir stellen uns ihr.“

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