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Uberbevölkerung — ein „Tot"-Schlagwort

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Die Weltbevölkerungskonferenz in Kairo wirft ihre Schatten voraus. Das Thema Bevölkerungswachstum beschäftigt Medien und Tagungen.

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Die Weltbevölkerungskonferenz in Kairo wirft ihre Schatten voraus. Das Thema Bevölkerungswachstum beschäftigt Medien und Tagungen.

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Grundlage der Überlegungen sind Prognosen verschiedener Institutionen (Weltbank, UNPF, IIASA) über die voraussichtliche Entwicklung der Weltbevölkerung bis zur Mitte, ja bis zum Ende des nächsten Jahrhunderts. Je nach Modellannahme kommen dabei Werte zwischen acht und 16 Milliarden Menschen bis zum Jahr 2050 heraus (FUBCHE 25/1994). Da dies im Vergleich zu den heutigen 5,7 Milliarden sehr viel ist, wird diese Entwicklung meist mit wertenden Bezeichnungen wie Bevölkerungsex-plosibn, drohende Menschenlawine, Bevölkerungsbombe... versehen.

Im Selbstverständnis vieler Menschen hat sich festgesetzt, die Erde sei (demnächst jedenfalls) überbevölkert, daher seien drastische Maßnahmen zur Geburtenbeschränkung überfällig und möglichst rasch in die Wege zu leiten - vor allem in den Ländern der Dritten Welt. Dort herrsche Armut, Hunger und Elend, weil es eben zu viele Menschen gebe.

Dieser kurzschlüssigen Argumentation ist einiges entgegenzusetzen. Zunächst einmal: Wer von Überbevölkerung spricht, sollte klarstellen, welchen Bezug er wählt, um festzustellen, daß es zu viele Menschen gibt: Zu viele bezogen auf die Landfläche? Mit Ausnahme von einigen kleineren Ländern (Mauritius, Bahrain, Barbados, Puerto Rico und einigen Stadtstaaten) haben nur Südkorea (43 Millionen) und Bangladesch (119 Millionen) eine höhere Bevölkerungsdichte als Belgien und die Niederlande. Niemand aber käme auf die Idee diesen beiden europäischen Ländern eine massive Politik der Geburtenbeschränkung wegen Überbevölkerung zu verordnen. Ähnliches gilt, wenn man die Bevölkerung auf das fruchtbare Land bezieht: Niemand denkt daran, England die Ein-Kind-Politik nahezulegen, wie dies in China geschieht. Und dennoch liegt Englands Bevölkerungszahl pro Quadratkilometer Agrarland mit 315 deutlich über jener Chinas (273).

Mangel an Raum ist es also nicht, also vielleicht Mangel an Nahrung bei zu rascher Vermehrung? Auch hier sprechen die Daten eine andere Sprache: Von 1950 bis 1980 ist die Nahrungsmittelerzeugung pro Kopf in der Dritten Welt um rund 30 Prozent gestiegen. Es stünde also für jeden mehr Nahrung denn je zur Verfügung.

Dennoch wird immer wieder vor Hungersnöten gewarnt, etwa im Bericht 1991 des UN-Fund for Population Activities: „Die Entwicklungsländer haben insgesamt einen schweren Rückschlag, was ihre Nahrungsmittelversorgung anbelangt, erlitten. Ihre Getreide-Importe beliefen sich 1969-71 auf nur 20 Millionen Tonnen. Bis 1983-85 waren sie auf 69 Millionen Tonnnen gestiegen und sollten Prognosen zufolge bis zur Jahrhundertwende 112 Millionen Tonnen betragen." Wer sich jedoch die Tabellen im Anhang des Berichtes zu Gemüte führt, erkennt, daß die Pro-Kopf-Nahrungsmittelerzeugung im Beobachtungszeitraum nur in drei Ländern (insgesamt 0,14 Prozent der Weltbevölkerung) gesunken ist. Die anderen 91 Entwicklungsländer mit fast vier Millionen Einwohnern hingegen verzeichneten in den achtziger Jahren einen pro Kopf Anstieg von 27 Prozent bei der Erzeugung von Nahrungsmitteln. Von einer statistisch erkennbaren Krise kann daher keine Rede sein.

Bleibt als weitere Möglichkeit: Zu viele Menschen für die gegebene Umweltkonstellation. Wie steht es diesbezüglich? Zu bedrohlichen Konstellationen in dieser Hinsicht kommt es vor allem in den städtischen Ballungszentren und in Regionen mit besonders prekären Wetter- und Vegetationsbedingungen. In letzteren ist das Überleben vom Einsatz angepaßter Technologie abhängig. Gerade sie ist aber vielfach vom Imperialismus der westlichen Technologie verdrängt worden - zum Teil mit verheerenden Folgen.

In solchen Fällen geht es aber nicht primär um die Zahl der Köpfe - das auch —, sondern vor allem um die geeignete Technik und das Anspruchsniveau.

Gerade bei dieser Frage müßten sich die Industrieländer zuerst selbst bei der Nase nehmen, statt nach massiver Geburtenkontrolle in der übrigen Welt zu rufen. Ein Großteil der weltweit auftretenden Umweltbelastungen sind Folgen der materi-al- und energieintensiven Technologie und des überzogenen Konsumniveaus der Reichen.

Diese Sichtweise kommt sogar im Bericht des UNO-Umweltschutzpro-gramms in Nairobi 1982 zum Ausdruck: „Die größte Gefahr für die Umweltzerstörung in den Entwicklungsländern kommt nicht von ihrer eigenen Bevölkerungszunahme, sondern vom hohen Pro-Kopf-Verbrauch der Industrieländer an Ressourcen, das heißt aus der Dritten Welt importerter Energie, Bodenschätzen und Landwirtschaftsprodukten. Die Dritte Welt verbraucht wegen Armut und industrieller Unterentwicklung - lediglich ein Viertel des Weltkonsums an Ressourcen, obwohl sie 80% der Weltbevölkerung umfaßt."

Soweit ein paar Klarstellungen zur Relativierung jener Alarmmeldungen, die uns eine unmittelbar bevorstehende Katastrophe bei weiterhin wachsender Bevölkerung in der Dritten Welt voraussagen. Damit will ich aber nicht den Eindruck erwecken, es gäbe in Sachen Bevölkerungswachstum keinen Grund, sich Gedanken zu machen. Ein Blick auf die Ballungszentren in der Dritten Welt, zeigt, daß es das Phänomen zu dichter Besiedlung sehr wohl gibt. Es sind Städte wie Säo Paolo mit fast 20 Millionen, Mexiko City, Bombay, Kalkutta mit 1,3 bis 16 Millionen Einwohnern und enormen Zuwachsraten, die uns vor Augen stehen, wenn von Überbevölkerung die Rede ist. Täglich sollen weitweit 80.000 Menschen in die Städte drängen. In manchen Ländern der Dritten Welt (Kuba, Mexiko, Argentinien, Brasilien, Korea, Venezuela...) leben rund 75 Prozent der Bevölkerung in Städten. In diesem Umfeld gibt es keinen angepaßten Lebensstil. Bevölkerungsdichten von 50.000 Menschen pro Quadratkilometer - das ist unmenschlich.

Hier sind wir allerdings mit den Folgen einer verheerenden Politik konfrontiert, die nicht der Förderung des ländlichen Raumes und der Bodenreform, sondern der Industrialisierung und der Öffnung der Wirtschaft für den Weltmarkt den Vorrang gegeben hat. Hier gilt es, neue Akzente zu setzen, sollte das Wohlergehen der Menschen ein Anliegen sein.

Was aber geschieht tatsächlich? Seit Jahrzehnten wird die Dritte Welt wirtschaftlich ausgebeutet, aber eindringlich Geburtenkontrolle verordnet. Familienplanung, das klingt - wenn man in Berichten der Weltbank liest —, sehr einleuchtend und human. Da ist viel von freier Entscheidung, von Wahl der Kinderzahl und ähnlichem die Rede. Kaum aber sieht man, wie sich das in der Realität abspielt, befällt einen blankes Entsetzen.

So berichten die Päpstlichen Missionswerke („Werkmappe Weltkirche" 92/1994), daß beispielsweise in Indonesien (die Weltbank investierte 1991 dort rund 1,2 Milliarden Schilling) Langzeitverhütung forciert wird, unter anderen Morplant-Me-thoden: Stäbchen weden den Frauen unter die Haut gepflanzt. Diese geben fünf Jahre hindurch Hormone ab, die Schwangerschaften verhüten. Viele der Frauen leiden unter zum Teil schweren Nebenwirkungen dieser immer noch umstrittenen Hormonbehandlung". Eine Studie des „Population Council" aus 1990 hat darauf aufmerksam gemacht, daß vielen Indonesierinnen, die die Entfernung des Implantats verlangt haben, diese verweigert worden ist.

Mehr als bedenklich sind auch Berichte aus Brasilien. Dort wird die Sterilisation forciert. Die Abgeordneten Benedita da Silva, die einen ganz armen Wahlbezirk von Rio de Janeiro vertritt, befaßte das brasilianische Parlament mit den Vorgängen um die Sterilisierungskampagnen. Man habe den betroffenen Frauen nicht gesagt, daß es sich um definitive Sterilisation handle, ja die Eingriffe seien mitunter sogar ohne ihre Zustimmung erfolgt.

Im dürregeplagten Nordosten des Landes seien schon 90 Prozent der schwarzen Frauen im gebärfähigen Alter sterilisiert. (Kathpress vom 18. Oktober 1991) Diese Zahlen erscheinen plausibel, wenn man bedenkt, daß der Weltentwicklungsbericht 1984 folgende Daten über den

Anteil der sterilisierten Frauen (an den gebärfähigen) enthält: Costa Bica 18 Prozent, Korea 20, Sri Lanka 21, Thailand 23 und Panama 30. Wieviel menschliches Elend steckt hinter diesen dürren Ziffern!

Denn die Methoden zur Erreichung solcher Zahlen sind meist äußerst fragwürdig, wie die Inderin Sumati Nair, aufgrund von Erfahrungen in ihrer Heimat berichtet: „Die Sollzahlen werden gemäß Bevölkerungsgröße auf die verschiedenen Staaten verteilt und sollen dort umgesetzt werden... Anreize in Form von Geld oder Naturalien werden auch an die Anwenderinnen der Verhütungsmethoden abgegeben und ans Gesundheitspersonal, das für das Erreichen der Sollzahlen an der Basis verantwortlich ist.

Wenn eine Gesundheitsarbeiterin - sehr oft sind dies Frauen - ihre „Fälle" nicht zusammenbekommt, kann ihr Gehalt gekürzt oder zurückbehalten werden, bis sie die Zielvorgabe auch erreicht. Unter diesen Umständen ist der Druck auf das Gesundheitspersonal, die Sollzahlen zu erfüllen, oft viel größer als das Bedürfnis der Frauen, Verhütung zu praktizieren. Das schafft einen fruchtbaren Boden für alle Arten von Mißbrauch..." (Werkmappe Weltkirche)

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