Vom Kuss zur Völkerfreundschaft

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Die Freundschaft unter Politikern steht nicht gerade hoch im Kurs. Doch sie ist trotz Verlogenheit segenspendend. Eine kleine Bestandsaufnahme.

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Die Freundschaft unter Politikern steht nicht gerade hoch im Kurs. Doch sie ist trotz Verlogenheit segenspendend. Eine kleine Bestandsaufnahme.

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Dass Freundschaft in den Kreisen der Macht eine sehr seltene Form des Umgangs ist, wusste schon Cicero. Der meinte, dass das Gefühl der "Amicitia" erstens Gleichheit und zweitens gegenseitiges Wohlwollen voraussetzt. Unter jenen aber, die Politik betreiben und damit das Leben anderer gestalten wollen, kann das kaum funktionieren. Wer politisch gestaltet, braucht den Sieg seiner Ideen über andere und in dieser beständigen Konkurrenz zu anderen Gestaltern gibt es den freundschaftlichen "Kuschelkurs" höchstens als Zynismus. Die Umgangsformen der Politik werden deshalb von Politikern selbst in folgender De-Kadenz beschrieben: Freund, Feind, Parteifreund.

Die alten Römer, soviel ist sicher, haben wenigstens noch versucht, die politische Freundschaft institutionell herzustellen -und zwar durch intensives Küssen. Augustus hatte den Brauch eingeführt. All seine Freunde und Günstlinge hatten sich jeden Morgen zur Visite beim Kaiser einzufinden. Zur Begrüßung gab es dort nicht bloß ein "Ave", sondern das "Osculum" - den Kuss des Kaisers auf den Mund. Je länger der Kuss dauerte, desto angesehener war der Freund beim Kaiser. Wem hingegen der Kuss verweigert wurde, der konnte seine Verbannung oder seinen Selbstmord gleich vorbereiten. Das Herzrasen der Beteiligten vor so einem Kaiser-Busserl mag man sich also gar nicht vorzustellen.

Eine unmenschliche Angelegenheit

Hätte sich diese Sitte bis heute gehalten, sie würde den dienstäglichen Ministerrat der Bundesregierung gewiss zu einem mit höchster Spannung erwarteten Ereignis machen -man denke sich nur: Ein Küsserkanzler. So aber: Schon 30 Jahre nach Einführung des Freundeskusses breitete sich die Gesichtslepra in Rom aus und Imperator Tiberius wurde die Angelegenheit dann doch zu heiß. Konsequenz: ein kaiserliches Schmuseverbot.

Aber zurück zum Ernst der Angelegenheit: Wenn Politik nichts mit Freundschaft zu tun hat, ist sie dann nicht eine ziemlich unmenschliche Angelegenheit? Und warum treibt es dann Menschen genau dahin, in die Politik? Neben der schon erwähnten Gestaltungsmöglichkeit kann man da auch nicht so gerne einbekannte Eigenheiten dieses Berufs listen. Etwa die vielfältigen Betätigungsfelder für die narzisstischen Seiten der Seele. Denn gerade in der Politik (wie sonst nur im Journalismus oder in der FIFA) kann man Ehre und soziale Anerkennung erreichen -ohne ein Held, eine Schönheit oder eine Geistesgröße zu sein. Was gekonnt werden muss, ist ja bloß Darstellung und Selbstdarstellung (und im Fall der FIFA die offene Hand).

Für Menschen, die Kraft ihrer Psyche ohnehin nur sich selbst zum besten Freund haben, ist Politik also ein ideales Betätigungsfeld, vor allem -und das ist natürlich ein Gemeinplatz so nicht gar eine Gemeinheit -, wenn die Betroffenen männlich und von kleinem Wuchs sind.

Die Freundschaft in der Politik wird wegen dieser narzisstischen Komponente oft bloß als Seilschaft ge-und erlebt, die nach einem Ziel strebt und sofort zerfällt, wenn der gemeinsame Zweck erreicht ist oder das Seil des Interesses im Streit um Einfluss und Vorherrschaft in der Gruppe durchschnitten wird. Die FPÖ, aber auch die ÖVP, boten lange Jahre hoch lebendigen Anschauungsunterricht dafür. Auf weltpolitischer Ebene können wir von dem Foto ausgehen (links), das Michail Gorbatschow und DDR-Staatschef Honecker 1990 beim Bruderkuss zeigt. Wenige Tage nach diesen Aufnahmen entließ Gorbatschow die DDR in die Freiheit und überließ seinen Kussfreund der Bestrafung durch die Geschichte.

Allerdings kann man die Freundlosigkeit nicht einfach so zum generellen politischen Prinzip erheben. Es gibt ja tatsächlich tiefe Freundschaften, innerhalb von Parteien, aber auch über Ideologiegrenzen hinweg. In der Steiermark scheint sich so etwas zwischen Landeshauptmann Franz Voves und Hermann Schützenhöfer ereignet zu haben, die am Wochenende die seltsamsten Wahlen Österreichs geschlagen haben: SPÖ und ÖVP kritisierten einander nicht einmal im Wahlkampf.

Lupenreine Männerfreunde

Ganz ähnlich hätten es wohl auch Gerhard Schröder und Wladimir Putin gemacht, wären sie Wahlwerber in einem Land. Die beiden unterstützen einander, wo sie nur können -Putin verschafft Schröder Jobs und Geld, Schröder bezeichnet seinen Freund aus vollster Überzeugung als lupenreinen Demokraten. Der Soziologe Vincenz Leuschner von der Humboldt-Universität Berlin ortet in diesem Fall eine Sympathie, in der es zu einer Beugung der Realität kommt.

Wir können solche Verliebtheit aber auch im Verhalten des Untergebenen oder des einfachen Anhängers eines Politikers sehen. Dabei findet gemäß der Psychoanalyse der Prozess der "Identifizierung" statt -die Selbstfindung im Anderen. Wenn dieser Prozess in einer politischen Masse erfolgt, setzen die Anhänger den Führer an die Stelle ihres Ich-Ideals, also ihres Gewissens. Freud folgert daraus, dass der Mensch in politischen Ansammlungen kein Herdentier, sondern ein Hordentier ist -er sucht nach Führern. Das Ich des Anhängers, so Freud, "introjiziert" das Objekt Führer.

Diese Art der freundschaftlichen Bewunderung führt, je nach Führungsperson, nicht nur zu den heroischsten Leistungen der Gruppe, sondern auch zu furchtbarsten Unmenschlichkeiten. Das Wort "in jedem steckt ein kleiner Hitler" ist in diesem Sinn eine grausige Realität.

Wenn man Freundschaft aber als eine Vermeidung von Feindschaft sieht, dann hat sie im Positiven sogar das Europa von heute geformt. Und an diesem Punkt landen wir wieder bei der ritualisierten politischen Freundschaft der Römer.

Vom gemeinsamen Händehalten von Helmut Kohl und François Mitterrand vor der Kathedrale von Reims bis zum unaufhörlichen Handgeküsse Nicolas Sarkozys bei Angela Merkel: Die Freundschaft ist hier zum symbolischen Akt geworden - und ändert damit ihren Charakter vom zwischenmenschlichen Affekt zum Verbindungselement für Millionen. Und unter diesen schafft sie die von Cicero vermisste "Amicitia", also erstens Gleichheit und zweitens gegenseitiges Wohlwollen. Wer könnte da noch etwas gegen politische Freundschaft haben?

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