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Wahlzuckerl helfen nicht viel

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Anlaß zu Hoffnung geben die großen Wirtschaftsdaten in Rußland. Doch für die Bevölkerung hat sich die Lage insgesamt eindeutig verschlechtert.

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Anlaß zu Hoffnung geben die großen Wirtschaftsdaten in Rußland. Doch für die Bevölkerung hat sich die Lage insgesamt eindeutig verschlechtert.

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Ist Rußland auf dem Weg aus der Wirtschaftskrise? Neueste Daten geben Anlaß zur Hoffnung. „Die verfügbaren wirtschaftlichen Kennzahlen lassen einen deutlichen Umschwung der bisher negativen Rekordwerte erwarten”, meint Günter Richter von der Außenhandekstelle der österreichischen Bundeswirtschaftskammer in Moskau. Im letzten Jahr konnte die Währung stabilisiert werden; die Exporte steigen seit 1994 wieder, das Bruttoinlandsprodukt könnte nach Jahren mit zweistelligen Rückgängen heuer erstmals geringfügig wachsen. „Es dürfte innerhalb von nur drei Jahren der Reform- und Transformationspolitik gelungen sein, die wirtschaftliche Talsohle zu durchschreiten”, so Günter Richter, der dies als großen Erfolg der russischen Regierung wertet.

Nach dem Zerfallder Sowjetunion und dem Zusammenbruch der planwirtschaftlichen Strukturen im Jahr 1991 schrumpfte die russische Wirtschaft in allen Bereichen. In dem rohstoffreichsten Land der Welt mit noch nicht zur Gänze erschlossenen Vorkommen an Erdöl, Erdgas, Kohle, Eisenerz, Bunt- und Edelmetallen, Diamanten und Gold sank im ersten „Reformjahr” die Industrieproduktion um 18 Prozent, das Bruttoinlandsprodukt um 18,5 Prozent. Der Außenhandel ging im ersten Halbjahr 1992 um 30 Prozent zurück. Obwohl rund die Hälfte der Getreide-, Kartoffel-und Gemüseproduktion und der Viehzucht der ehemaligen Sowjetunion auf Rußland entfallen, waren für den Winter 1992/93 Kreditgarantien der USA im Gesamtausmaß von 775 Millionen US-Dollar erforderlich, um die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Der erste Inflationsschub unmittelbar nach der Preisfreigabe Anfang 1992 betrug 350 Prozent. Die Verbraucherpreise stiegen bis Oktober um das Zwanzigfache, die Löhne nur um das Zehnfache.

In den Folgejahren verbesserte sich die wirtschaftliche Situation kaum. Die seit 1991 regelmäßig ausgewiesenen Handelsbilanz-Überschüsse -fast 16 Prozent im Jahr 1993! - kamen durch Importrückgänge zustande. Die Industrieproduktion sank weiter, der Rekordwert wurde im ersten Halbjahr 1994 mit einem Rückgang um zirka 26 Prozent erreicht. Die Automobilproduktion, oft als Indikator für die Wirtschaftsentwicklung herangezogen, ist bis heute rückläufig. Eine Million PKWs und LKWs wurden 1995 in Rußland produziert, im Dritte-Welt-Land Brasilien 1,6 Millionen, im Schwellenland Südkorea 2,6 Millionen.

Zwar gelang es 1994 erstmals, durch eine straffere Geld- und Kreditpolitik, insbesondere durch die Einstellung der bis dahin üblichen Vergabe von Zentralbankkrediten an insolvente Unternehmen, die Inflation von durchschnittlich 20 Prozent pro Monat auf vier bis acht Prozent zu reduzieren. Aber schon im Sommer

Nächste Woche lesen Sie im Dossier: Umweltbewußte Gemeinden desselben Jahres entschloß sich die Zentralbank aufgrund der drastischen Produktionsrückgänge zu weiteren Kreditvergaben an Landwirtschaft und Industrie, was im Oktober zu einem neuerlichen Kursverfall des Rubel führte. Wieder waren Stützungskäufe, Restriktionen auf dem Kreditmarkt, um die Währung zu stärken, und wieder wurden dadurch die Investitionen in die Modernisierung der Betriebe gebremst. Ein Teufelskreis ohne Ausweg, zumal das Engagement ausländischer Investoren weit hinter den Erwartungen blieb.

In einem Bereich schien die Reformpolitik jedoch von Beginn an Erfolg zu haben: bei der Entstaatlichung. In der ersten Privatisierungs-welle, die im Oktober 1992 begann, wurden 148 Millionen „Privatisierungsschecks” an die Bevölkerung ausgegeben. Mehr als 100.000 Unternehmen gingen zumindest teilweise in Privatbesitz über. Heute sind 70 Prozent des Industriepotentials in privater Hand, rund 40 Prozent der Bevölkerung sind Aktionäre geworden.

Aber was bedeuten diese Zahlen angesichts von Produktionsrückgängen und Betriebsstillegungen? In Klein- und Mittelbetrieben wird bereits erfolgreich nach marktwirtschaftlichen Prinzipien gearbeitet, in vielen Großbetrieben blieb dagegen der effizienzsteigernde Effekt der Privatisierungen aus. Die Umwandlung in Aktiengesellschaften und der „Aufstieg” der Mitarbeiter zu Miteigentümern brachten zwar zunächst einen Motivationsschub für die Beschäftigten, den Betrieben wurde aber durch diese „Belegschaftsprivatisierungen” weder Kapital noch neues Know-how zugeführt. Das Management blieb dasselbe, bei der innerbetrieblichen Umstrukturierung gab es kaum Fortschritte. Bis heute haben sich viele dieser Betriebe in ihrer Struktur kaum verändert, die Produktivität sinkt, oft können monatelang keine Löhne ausbezahlt werden. Bedingungen, unter denen die Mitarbeiter längst aufgehört haben, an die Reform zu glauben.

Auch Staatsangestellte, Lehrer, Spitalsärzte müssen auf ihre Gehälter warten. In den letzten Wochen hat sich die Situation in einigen Bereichen entschärft - ein erstes Indiz für den Wirtschaftsaufschwung? Eher ein „Wahlzuckerl” vor den Präsidentenwahlen. Noch für die Tage vor der Wahl rechnete man mit der Freigabe weiterer Mittel durch die Regierung zur Zahlung der rückständigen Löhne. „Wir können nur hoffen, daß das geschieht”, meinte in der Vorwoche Jouri Chteine, Kernphysiker und Gründer des „Altösterreicher-Bundes” in Jekaterinburg (siehe Interview, furche 50/95, Seite 9). Für die Menschen gehe es um die Sicherung ihrer Existenz, für das Land um die politische Stabilität.

Insgesamt, so Chteine, habe sich die

Lage für die Bevölkerung eindeutig verschlechtert. „Es gibt eine kleine Gruppe von Reichen, die in letzter Zeit noch reicher geworden sind; die Armen werden dagegen immer ärmer und immer mehr.” In der ersten Hälfte des „wirtschaftlichen Erfolgsjahres” 1995 fiel nach offiziellen Angaben das Bealeinkommen der Bevölkerung um sieben Prozent, die Kaufkraft der einkommensschwächsten Bevölkerungsgruppen, gemessen an einem „Minimalwarenkorb”, sank um 43 Prozent. Mit 100 Dollar im Monat soviel beträgt der Durchschnittsverdienst, uad das entspricht auch dem tatsächlichen Monatslohn in vielen Betrieben - muß oft eine ganze Familie ihr Auslangen finden. Immer mehr Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze. Die Arbeitslosenzahlen sind in den vergangenen

Jahren weiter angestiegen; die Regierung spricht von 2,3 Prozent für 1994 und 6,5 Prozent für 1995, realistischer sind inoffizielle Werte von zehn beziehungsweise 15 Prozent.

Die Unzufriedenheit wächst auch bei der Landbevölkerung. „Die Menschen bauen in ihren Gärten Gemüse an, für die Märkte in den Städten”, so Jouri Chteine. „Wenn es aber lange Schlechtwetterperioden gibt, wie jetzt gerade im Gebiet um Jekaterinburg, ist alle Mühe vergeblich.” Eine schlechte Ernte bedeutet die unmittelbare Gefährdung der Existenz. Kein Wunder, daß die anfangs positive Einstellung zur Reform sich auch hier grundlegend gewandelt hat, daß immer mehr Menschen beginnen, die Sowjet-Vergangenheit und den Kommunismus zu idealisieren. Für Chteine ein Grund zu „tiefer Besorgnis”.

Auch die immer enger werdende Verflechtung zwischen Wirtschaft, Politik und organisierter Kriminalität wird zur Bedrohung. Den russischen Behörden sind rund 4.300 kriminelle Organisationen bekannt, die mindestens 35.000 Privatfirmen, aber auch Banken und Börsen kontrollieren. In einem Land, in dem es an Kapital fehlt, wurden sie durch ihre Finanzkraft zu einem wirtschaftlichen und politischen Machtfaktor. „Was heißt schon Mafia?” meint Jouri Chteine bitter. „Heutzutage sind das doch gute Kapitalisten! Die besten Unternehmer und Finanzleute kommen aus ihren Reihen.” Sie haben sich etabliert, gehören zum System. - Rußland ist auf dem Weg aus der Krise? Mag sein, aber der Weg ist noch weit.

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