Warum die Lehre rostet

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Die duale Ausbildung wird in Österreich gerne als Erfolgsmodell gefeiert. Doch das System ist in die Jahre gekommen und schwächelt an vielen Stellen.

Für Bercin ist der Termin beim Arbeitsmarktservice (AMS) für Jugendliche heute erfreulich: "Ich bin da, um mich abzumelden“, sagt sie stolz. Gestern hat die 18-Jährige ihren ersten Probetag erfolgreich absolviert, nächste Woche wird sie bereits zu arbeiten beginnen. "Als Reisebürokauffrau-Lehrling“, strahlt sie. "Damit geht ein Traum in Erfüllung.“

So erleichtert wie Bercin sind nicht alle hier. Rund 8.000 Jugendliche suchen derzeit in Österreich eine Lehrstelle, allein in Wien sind es um die 2.500. Rund die Hälfte davon wird bis zum Herbst keine Stelle finden, schätzt Gerda Challupner, die Leiterin des AMS für Jugendliche. Dank der Ausbildungsgarantie wird trotzdem jeder wo unterkommen, viele in einer Lehrwerkstatt oder überbetrieblichen Lehrlingsausbildung. Mehr als 10.000 Jugendliche in Österreich machen jedes Jahr eine Lehre in einer Trägerorganisation. Die Kosten dafür, rund 18.000 Euro pro Kopf und Jahr, trägt die öffentliche Hand. Die Maßnahme gibt Jugendlichen eine Chance, die am freien Arbeitsmarkt nichts finden - und macht sich ganz nebenbei auch in der Statistik recht hübsch: Österreich hat bei der Jugendarbeitslosigkeit einen der niedrigsten Werte Europas: 8,3 Prozent aller Jugendlichen unter 25 waren bei uns im Vorjahr arbeitslos, im EU-Schnitt waren es 21,4 Prozent. Das liege am international renommierten dualen Ausbildungssystem, wird gern gejubelt. Doch gar so rosig ist die Lehrausbildung nicht. Im Gegenteil: An vielen Stellen scheint die Lehre rostig.

Ausbildung oder Ausbeutung?

Auch Bercin hat nach der Handelsschule keine Lehre gefunden und in einer überbetrieblichen Ausbildung begonnen. Nach einem Jahr wurde sie als Praktikantin in ein großes Reisebüro vermittelt - mit Aussicht, als "echter“ Lehrling übernommen zu werden. "Dort habe ich nur Kataloge geschlichtet, Geschirr gewaschen und das Klo geputzt“, erzählt sie. Als sie nach vier Monaten einen Lehrvertrag kriegen sollte, meinte ihr Chef, sie könne gern weiter hier arbeiten - so lange ihr Gehalt weiter aus der überbetrieblichen Ausbildung bezahlt werde. Zwei Wochen brauchte sie, um die Enttäuschung zu verdauen. Zwei Monate, um einen neuen Job zu finden. An einer Supermarktkassa.

"Viele Betriebe verwechseln bei Lehrlingen Ausbeutung mit Ausbildung“, ärgert sich Christoph Peschek. Der 28-Jährige ist Jugendsekretär der Gewerkschaft für Privatangestellte in Wien und sitzt für die SPÖ im Gemeinderat. Geschichten wie die von Bercin kennt er zuhauf. Er erzählt von Lehrlingen, die weit unter dem kollektivvertraglichen Gehalt arbeiten. Von Kündigungswellen in der Gastronomie nach den Sommermonaten, die zufällig aufs Ende der dreimonatigen Probezeit fallen. Und er legt eine Studie vor, die besagt, dass 34 Prozent aller Lehrlinge ihren Ausbildner nie oder nur sehr selten sehen.

Dass Lehrlinge in der Lehrzeit oft nicht das lernen, was sie für den Beruf brauchen, lässt auch der Rekord an nicht bestandenen Lehrabschlussprüfungen vermuten. Fast zwanzig Prozent fielen im Vorjahr durch, in manchen Branchen sogar zwei Drittel. "Wir müssen die Qualität der Lehrausbildung radikal verbessern“, sagt Peschek.

Das ist auch im Interesse der Wirtschaftskammer (WKO), die momentan ein System zum Qualitätsmanagement erarbeitet. Die Wirtschaft sieht sich nämlich mit einem künftigen Facharbeitermangel konfrontiert. Während jetzt noch 40 Prozent aller 15-Jährigen eine Lehre machen, werden es in fünf Jahren nur mehr 30 Prozent sein. Die Zahl der Erstjahrgangslehrlinge wird in den kommenden 14 Jahren von derzeit zirka 40.000 auf 24.000 absinken. Das ist demografisch bedingt. Aber nicht nur.

Lehre muss aufpoliert werden

Denn die Zahl der Lehrlinge sank zuletzt - besonders während der Wirtschaftskrise - stärker als die Zahl der 15-Jährigen. Nur neun Prozent der Wiener Betriebe, die ausbilden könnten, tun das auch, kritisiert Peschek. "Es ist sinnlos, das auf ein moralisches Problem zu reduzieren“, kontert Alfred Freundlinger, der Lehrlingsbeauftragte der WKO. "Die Frage, ob man ausbilden will, spielt eine untergeordnete Frage gegenüber der wirtschaftlichen Lage.“

Würde eine Förderung für Lehrplätze, wie es sie als "Blum-Bonus“ früher gab (siehe Interview rechts) Abhilfe schaffen?

"Nein“, sagt Peschek, der Gewerkschafter. "Die Unternehmer müssen ihre soziale Verwantwortung wahrnehmen.“

"Nein“, sagt auch Freundlinger von der WKO. "Nur zwei Zahlen beieinflussen die Lehrlingszahlen: Die Demografie und die Wirtschaftsentwicklung.“ Viele Unternehmen hätten zudem Schwierigkeiten, Lehrlinge zu finden. Nicht nur, weil viele Bewerber nicht ausreichnend qualifiziert sind, sondern auch, weil es in manchen Regionen schlichtweg keine Bewerber gibt.

Dass die Lehrlingsausbildung aufgewertet werden muss, darin sind sich WKO und Gewerkschaft einig. Peschek hat die Vision, dass die Berufsschulzeit ausgedehnt wird, und man dafür mit einem Lehrabschluss automatisch Maturaniveau erreicht. In einem Positionspapier der Wirtschaftskammer wird Ähnliches gefordert: Eine Meister- und Befähigungsprüfung soll den Zugang zu tertiärer Ausbildung ermöglichen.

Kritischer Punkt nach 3 Monaten

Für Adam wäre das alles kein Anreiz. Er ist 18, sitzt in der Wartezone des AMS für Jugendliche, und eine Lehrstelle interessiert ihn nicht. Zweieinhalb Jahre hat er eine Lehre als Einzelhandelskaufmann gemacht, dann hat er alles hingeschmissen. "Ich konnte nicht den ganzen Tag so freundlich zu den Kunden sein, und mein Chef hat mich nur zur Sau gemacht.“ Jetzt möchte er Geld verdienen, mehr als die Lehrlingsentschädigung. "Was Richtiges“ arbeiten, in einem Lager zum Beispiel. "Auf viele Bewerbungen bekomme ich gar keine Antwort.“ Seit zwei Monaten sucht Adam einen Job.

Bald ist der kritische Punkt erreicht, weiß Gerda Challupner. "Die ersten zwei Monate sind für viele noch lustig, aber ab dem dritten wird man immer weniger vertragsfähig.“ Das frühe Aufstehen verlernt man schnell, und auch im Sich-was-sagen-Lassen kommt man aus der Übung. Adams Chancen stehen schlecht: Je weniger Qualifikationen man hat, desto eher ist man von Arbeitslosigkeit betroffen. "Das erste Ziel muss deshalb eine Qualifizierung, am besten eine Lehre, sein“, sagt Challupner. Für Adam käme auch eine Facharbeiterintensivausbildung infrage. Diesen Crash-Kurs gibt es seit 2009. In nur 24 Monaten und mit etwas mehr Entschädigung kann man so einen Beruf lernen.

In Adams Situation geraten Jugendliche meist, wenn sie keine klare Berufsvorstellung haben. Und niemanden, der bei der Orientierung hilft. Abhilfe schaffen könnte eine bessere Berufsorientierung in der Pflichtschule. Und das "Lehrlings-Coaching“, das Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner im Herbst starten will. Coaches sollen in Betrieben zwischen Lehrlingen und Ausbildnern, Eltern und Berufsschule vermitteln. Bercin braucht das nicht, meint sie. Sie hat liebe Eltern. "Und wenn man jemanden hat, der einen unterstützt,“ sagt sie, "kann man alles schaffen.“

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