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Was ist Existenzminimum?

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Es ist gut, daß der Blick der Oeffentlichkeit durch dieses Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes auf die krasse Ueberbesteuerung kinderreicher Familien gelenkt wurde. Und es ist am Platze, die Frage aufzuwerfen, ob eine E i n k o m m e n b e s t e u e r u ri g des Ei istenzminimums überhaupt berechtigt ist.

Was kann man denn als Existenzminimum bezeichnen? Doch wohl jene Mittel, die ausreichend sind, um dem Menschen Ernährung, Kleidung, Wohnung, Reinigung, Heizung und ein Mindestmaß an kulturellen Bedürfnissen (bei Kindern: Schule und Berufsausbildung) zu gewährleisten. Die Berechnungen des Oesterreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung sind auf diesem notwendigen Aufwand einer vierköpfigen Arbeiterfamilie aufgebaut. Bei der Ernährung sind für den männlichen Erwachsenen 2700 Kalorien zugrunde gelegt. Als Wohnung ist eine aus Zimmer, Kabinett und Küche bestehende Mieterschutzwohnung gerechnet; dazu kommen 130 Kilowatt Strom, 365 Kubikmeter Gas, 600 Kilogramm Kohlen und 600 Kilogramm Koks pro Jahr. Die Bekleidung entspricht einem Bedarf von einem halben Anzug, einem viertel Mantel, einer Garnitur Unterkleidung und einem Paar Schuhe pro Person und Jahr. Die Berechnung enthält auch Ausgaben für Reinigung (13.47 S pro Woche für vier Personen), Haushaltungsgegenstände (10.87 S), Bildung (14.25 S), Verkehr (12.31 S) und Genußmittel, z. B. Getränke, Kaffee, Rauchwaren (38.45 S). Die vergleichbaren Zahlen für eine andersartig zusammengesetzte Familie (z. B. mit mehr Kindern) wurden nach dem Schema Doktor Pellers berechnet und im „Volksboten“ vom 16. November 1952 veröffentlicht. Nachdem es sich um die September-Veröffentlichung 1952 des Instituts für Wirtschaftsforschung handelt, müßte man eigentlich jetzt — nachdem der Lebenshaltungskostenindex seither etwas gesenkt werden konnte — neue Berechnungen aufstellen. Doch für die Zwecke dieses Aufsatzes spielt der geringfügige Unterschied keine große Rolle, zumal die Verbilligungen nicht gerade bei jenen Lebensmitteln und Bedarfsgütern eingetreten sind, die von kinderreichen Familien hauptsächlich konsumiert werden. Außerdem sind die tatsächlichen Lebenshaltungskosten einer kinderreichen Familie vermutlich sowieso höher, weil die meisten von ihnen nicht zu

den glücklichen Inhabern von Mieterschutzwohnungen gehören und weil eine kinderreiche Familie auch in manchen anderen Dingen größeren Erschwernissen des Lebenskampfes ausgesetzt ist. So wird man nicht weit fehlgehen, wenn man die im „Volksboten“ vom 16. November 1952 veröffentlichten Berechnungen auch heute noch als Mindestlebenshaltungskosten annimmt und in dieser Form als Existenzminimum bezeichnet. Denn man kann wohl den einen oder anderen in der Berechnung enthaltenen Bedarf für eine kürzere oder längere Zeit aufschieben, wie z. B. die Nachschaffung von Bekleidung, indem man sich mit der abgetragenen Bekleidung weiter behilft, aber um so stärker meldet sich dann später die Nachholung des aufgeschobenen Bedarfes. Bei heranwachsenden Kindern geht auch dies nicht, weil gesunde und lebhafte Kinder eine viel stärkere Abnützung ihrer Schuhe und Bekleidung aufweisen als Erwachsene.

Noch im Jahre 1945 war dieses Existenzminimum — bei Umrechnung der Kaufkraft der Währung im Verhältnis von 1 Reichsmark 1945 = 7 Schilling 1952/53 — für jeden Familienstand steuerfrei. Infolge der schleichenden Geldentwertung der Jahre 1947 bis 1951 ergaben sich ziffernmäßige — aber nicht kaufkraftmäßige — Einkommenserhöhungen, so daß früher steuerfreie Einkünfte allmählich in die Räder der Einkommensteuer-Progression gerieten. Um die durch die scheinbare Einkommenserhöhung Jahr um Jahr ansteigende Progression der Einkommensteuer und Lohnsteuer wiederum „aufzufangen“, erschienen eine Reihe von Steueränderungs- und Steuerermäßigungsgesetzen, die die Steuerskala immer wieder herabsetzten. Aber die unversorgten Kinder und die (nicht selbst in einem lohnsteuerpflichtigen Arbeitsverhältnis stehende) Ehefrau wurden dabei immer stiefmütterlicher behandelt und schließlich, bei den Ermäßigungen nach Artikel X des Steueränderungsgesetzes 1951, überhaupt vergessen. Und so kommt es, daß

heute wohl das Existenzminimum der Ledigen (585 S) steuerfrei bleibt, daß auch für ledige „Einzelversorger“ noch ein weiterer steuerfreier Spielraum (bis monatlich 708 S nach der Lohnsteuertabelle) bleibt, daß aber bei den Verheirateten die unterste Grenze der Besteuerung in das Existenzminimum hineingreift, und zwar

um so tiefer, je mehr Kinder zum Haushalt gehören.

Hinsichtlich des Existenzminimums der Ledigen ist zu beachten, daß man „ledig“ nicht mit „Einzelversorger“ verwechseln darf. Der weitaus überwiegende Teil der Ledigen lebt nämlich im Familienverband des Elternhauses und genießt dort alle in einer Familie möglichen Verbilligungen der Lebenshaltungskosten. Es handelt sich bei den meisten Ledigen um die erwachsenen und schon im Berufsleben stehenden Kinder, die, wenn irgendwie möglich, bis zur Gründung eines eigenen Hausstandes noch im Elternhaus verbleiben.

Die Besteuerung des Existenzminimums beträgt nach der Lohnsteuertabelle bei Familien mit einem Kind 7 Prozent, mit zwei Kindern 8 Prozent, mit drei Kindern 10 Prozent, mit vier Kindern 12,5 Prozent, mit fünf Kindern 15 Prozent, mit sechs Kindern 17 Prozent des steuerpflichtigen Einkommens.

Es leuchtet ohne weiteres ein, daß der Staat aus budgetären Notwendigkeiten zu einem Höchstausmaß an Besteuerung schreiten, mußte. Jedoch die Besteuerung eines Einkommens, welches das Existenzminimum nicht erreicht oder nicht übersteigt, kann man füglich als unmoralisch bezeichnen. Denn das Existenzminimum ist eine Grenze! Erst über dem Existenz-

minimum beginnt, allmählich ansteigend, die steuerliche Leistungsfähigkeit. Unter dem Existenzminimum beginnt die soziale Hilfsbedürftigkeit und wird um so größer, je weiter das tatsächliche Einkommen unter dem Existenzminimum zurückbleibt. Die Beachtung dieser Grenze ist eine der Hoffnungen, die man an die angekündigte Einkommensteuerreform knüpfen muß. Besteuert nicht die Not der Familien! Zumal im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht, wo in Oesterreich eine so auffallende und fortschreitende Kinderlosigkeit in Ausbreitung begriffen ist.

Selbst budgetäre Notwendigkeiten dürfen nicht zu einer derartigen steuerlichen Fehllenkung führen. Zumai budgetäre Notwendigkeiten sich immer und in erster Linie im Rahmen steuerlicher Gerechtigkeit halten müßten. Wenn Oesterreich in den acht Jahren seit Kriegsende den Ledigen die Einkommensteuer in verschiedenen Einkommensstufen um 10 bis 20 Prozent senken konnte (z. B. bei Höchsteinkommen um rund 16 Prozent, das ist bei einer Million Jahreseinkommen eine Steuersenkung von 160.000 S), dann ist anderseits die Notwendigkeit nicht einzusehen, daß man gleichzeitig für die wenigen in Oesterreich noch bestehenden Mehrkinderfamilien die Einkommensteuer in so krassem Ausmaß erhöhen mußte. Es gibt ja nach Schätzung des

statistischen Zentralamtes in Oesterreich nur noch 257.000 Familien mit zwei Kindern, 80.500 Familien mit drei Kindern, 32.200 Familien mit vier Kindern und 16.000 Familien mit fünf und mehr Kindern. Ob aus diesen wenigen kinderreichen Familien — auch durch die härteste Ueberbesteuerung — jene Mehrsteuern herausgepreßt werden können, die zum budgetären Ausgleich für die erfolgte Einkömmensteuersenkung bei den rund 1,200.000 Ledigen erforderlich sind, ist mehr als fraglich.

Zurückkommend auf das eingangs erwähnte Erkenntnis möchte man nur wünschen, daß der Verwaltungsgerichtshof der belangten Steuerbehörde noch die Empfehlung angefügt hätte, sie möge von ihrem gesetzlichen Recht Gebrauch machen und dem Beschwerdeführer in Anbetracht der besonderen Härte dieses Besteuerungsfalles aus Billigkeitsrücksichten jenen Teil der Einkommensteuer erlassen, der auf die Kosten zur Beschaffung der größeren Wohnung entfällt.

Viel wichtiger und wesentlicher ist es aber, daß sämtlichen österreichischen Familien endlich die Steuerfreiheit wenigstens des Existenzminimums gesetzlich garantiert werde. Eine Mindestforderung an die bevorstehende Steuerreform, die allerdings nicht die einzige sein wird.

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