Weitere Verkehrsadern durch Tirol?

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EU-Integration heißt mehr Verkehr, vor allem auf der Straße. Tirols Berge behindern den Nord-Süd-Transit. Das meiste rollt über den überlasteten Brenner. Wird es dabei bleiben?

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EU-Integration heißt mehr Verkehr, vor allem auf der Straße. Tirols Berge behindern den Nord-Süd-Transit. Das meiste rollt über den überlasteten Brenner. Wird es dabei bleiben?

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Seit Menschengedenken sind die Tiroler Berge im Weg gestanden, wenn sich deutsches Handwerk sowie deutsche Kunst und Wissenschaft mit italienischer austauschen wollten. Freilich haben die Europäer heute bessere Mittel, um das Hindernis zu überwinden: 40 Tonnen Lastwagen mit starken Motoren bewältigen breite, sanft ansteigende Autobahnen. Die klassische, aber überlastete Route für Warenaustausch und Touristenstrom zwischen Nord und Süd führt entlang des Inn und der Sill, über den Brenner, entlang des Eisack und der Etsch. Dennoch sind die Tiroler zum Ärgernis geworden, sie protestieren gegen die Verkehrsflut und verlangen für die Brennerautobahn Maut in einer Höhe, die die EU-Kommission nicht akzeptiert.

Die Berge Tirols zwischen den äußerst vitalen Wirtschaftsregionen Süddeutschland und Norditalien sind eine Laune der Natur, ärgerlich für eine wachsende Wirtschaft, die nach mehr und breiteren Straßen verlangt. Daher geraten wegen Straßen und Straßenprojekten Wirtschaftstreibende sowie Bewohner der Täler und Umweltschützer, Industrielle und Touristenbeherberger einander in die Haare. Zusätzlich entstehen zwischenstaatliche Probleme, wenn Italien oder Deutschland hochrangige Straßen auf Österreichs Grenzübergänge zubauen und den Tirolern den dort ausufernden Verkehr überlassen.

Besorgte Umweltschützer unterstellen Taktik: Die Österreicher würden unter solchen Voraussetzungen bald einsehen, daß sie weitere leistungsfähige Transitrouten durch Tirol brauchen. Es ist wie mit dem steten Tropfen, der den Stein höhlt: Jeder Lkw erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß Österreich eine hochrangige Anschlußstraße in seine Berge baut.

Von Venedig direkt ins Zillertal Schon vor Jahrzehnten plante ein Konsortium aus Italienern und Bayern die Alemagna, eine Autobahn durch die Ostalpen. Sie sollte von Venedig nach Norden führen; entlang der Piave, durch die Dolomiten, ins Pustertal und mit einem Tunnel durch den Alpenhauptkamm ins Zillertal bis zur Inntalautobahn bei Jenbach. Die Hälfte ihrer Strecke haben die Italiener bereits gebaut - bis Longarone im Piavetal, 80 Kilometer vor der österreichischen Grenze.

Die Alemagna bis Jenbach ist heute weder in Italien noch in Österreich politisch durchsetzbar. Der Stolz auf die Ingenieurkunst beim Bau der Europabrücke, Teil der Brennerautobahn, ist der Frustration über Lärm, Abgase und Auftausalz gewichen. Die Zeit des wilden Betonierens ist vorbei. Die Landesregierungen Nord- und Südtirols lehnen die Alemagna ab.

Die Regierungschefs der Arbeitsgemeinschaft Alpenländer stellten fest: "daß keine neuen hochrangigen Straßenverkehrsachsen/Autobahnen zur Überwindung des Alpenbogens, wie etwa die Alemagna, errichtet werden sollen." Die EU schreibt die Alemagna nicht mehr in ihren Entwurf für vorrangige Vorhaben Transeuropäischer Verkehrsnetze.

Betroffene Talbewohner, Touristenbeherberger sowie Umweltschützer hüben wie drüben sehen sich aber heute von einem Ausbau bestehender Straßen zur "Alemagna light" oder zur "Schnellstraße mit alpinem Charakter" bedroht. Ab Pieve di Cadore sind vier Routen denkbar. Eine dieser Varianten führt unter Umgehung der widerspenstigen Südtiroler mit einem Grenztunnel unter der Kinigat, einem Berg der Karnischen Alpen, nach Kartitsch und ins Osttiroler Pustertal.

Die Osttiroler protestierten, sammelten Unterschriften, und der österreichische Ministerrat sprach sich gegen einen Weiterbau der Alemagna aus. Da der Kinigattunnel als Grenztunnel der Zustimmung Österreichs bedürfte, können ihn die Italiener nicht verwirklichen. Hubert Sint von der Bürgerinitiative Kinigat-Kartitsch meint vorsichtig: "Derzeit ist Ruhe eingetreten, aber natürlich besteht der wirtschaftliche Druck weiter, die Alemagna zu bauen". Auch Osttiroler Unternehmer fordern die Alemagna. Sie sehen in einem Autobahnanschluß verbesserte Standortbedingungen.

Der Bozener Bürgermeister Giovanni Salghetti-Drioli übt politischen Druck aus, indem er - erst Anfang Jänner - den Weiterbau der Alemagna forderte. Daß er so handelt, ist verständlich: Bozen leidet an der Brennerautobahn. Daher verlangt Salghetti-Drioli "eine gerechte Verteilung der Lasten." Die Vorsitzende der Umweltkommission der Stadt Bozen Evi Keifl sieht in seiner Forderung "den Verzweiflungsruf eines Bürgermeisters, der sich um seine Stadt sorgt." Aber sie sagt auch: "Mit einer neuen Autobahn löst man niemals das Verkehrsproblem".

Reinhard Gschöpf von der Internationalen Alpenschutzkommission weiß aus ähnlichen Fällen, was nach Bau der Alemagna geschehen würde. "In wenigen Jahren stiege durch Verkehrszuwachs das Aufkommen auf der Brennerautobahn wieder auf das heutige Ausmaß an, nur daß dann auch andere Talschaften litten." Daher lehnt Gschöpf auch die EU-Philosophie ab, die eine Verteilung des Verkehrs in der gesamten Alpenregion anstrebt.

Von Schweden zum Reschenpaß Klarheit, wie es mit der Alemagna weiter geht, könnte der überfällige italienische Verkehrswegeplan bringen. Gschöpf sagt: "Es heißt, daß der neue Zehnjahresplan im Februar herauskommt". Für ihn ist die wesentliche Frage: "Wird die Straße dem Transitverkehr dienen?" Das wird sie, wenn sie breit genug ist, vier Autos nebeneinander aufzunehmen oder Lkws mühelos zu überholen. Mit jedem weiteren Kilometer dieser leistungsfähigen Straße kommen die betroffenen Gemeinden, Tirol und Österreich unter Zugzwang.

Konkreter, weil näher an Österreichs Grenze, ist die deutsche A7. Diese Autobahn durchquert Deutschland von Flensburg im Norden bis Nesselwang im Süden. Noch fehlen wenige Kilometer bis nach Füssen und zum deutsch-österreichischen Grenztunnel. Er wird schon gegraben.

Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten, sonst bräuchte man sie, gar nicht erst zu bauen: Im Tiroler Außerfern wird der Verkehr zunehmen. Die Fahrzeuge werden aus dem Grenztunnel fluten, sich durch Tiroler Dörfer oder an diesen vorbei zwängen und auf den Fernpaß rasen. Gschöpf prophezeit: "Wird die Belastung für die Anrainer unerträglich, dann bleibt nichts mehr über, als auszubauen". Ausbauen heißt zumindest, den Verkehr am Ortskern vorbeileiten.

Ortsumfahrungen werden auch heute schon gebaut. Die Umfahrung Landeck, zum Beispiel, sei eine Vorleistung Österreichs für die Transitroute: Schweden-Dänemark-Deutschland-Reutte-Fernpaß-Reschenpaß-Italien, meint Peter Haßlacher vom Österreichischen Alpenverein. Ähnlich sehen Umweltschützer die Umfahrung Abfaltersbach im Osttiroler Pustertal. Gschöpf erzählt: "Bisher stand dem Verkehr eine starke Steigung und eine enge Ortsdurchfahrt entgegen; das ist für Fernfahrer die Hölle, und wenn sie Schneeketten anlegen müssen, kostet sie das eine halbe Stunde."

Mit der Ortsumfahrung Abfaltersbach schaffe Österreich eine überregionale Verkehrsverbindung. Großräumige Ortsumfahrungen zu bauen, sei Salamitaktik oder Perlenkettenstrategie: Wie Perlen reihen sich Ortsumfahrungen aneinander, und mit jeder haben Venezianer wieder ein paar Tiroler weniger im Weg, wenn sie nach München brausen.

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