Wer's nicht schafft, wird kriminell

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Transnationale Konzerne treiben den Wohlfahrtsstaat in die liberale Richtung, sagt der Bamberger Soziologe Richard Münch.

Die Furche: Herr Professor Münch, der christlich-sozial geprägte und der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat werden vom liberalen Wohlfahrtstaat abgelöst - so lautete Ihre These beim Forum Alpbach. Was verursacht diesen Vorgang?

Richard Münch: Durch den internationalen Wettbewerb gibt es einen Anpassungsdruck der konservativen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten an das liberale Modell. Die Politik wird zu dieser Veränderung von Transnationalen Konzernen gezwungen, die auf dem Weltmarkt der Konkurrenz ausgesetzt sind und die Möglichkeiten der Auslagerung von Arbeitsplätzen nützen können und aus Wettbewerbsgründen zwangsläufig nützen müssen.

Die Furche: Was unterscheidet das liberale Modell vom christlich-sozial-konservativen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat?

Münch: Der konservative Wohlfahrtsstaat ist durch seine Betonung von Familie und Berufsgruppen geprägt; im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat spielen starke Gewerkschaften eine zentrale Rolle. Im Unterschied dazu setzt der liberale Wohlfahrtsstaat wesentlich mehr auf den Markt und flankierend dazu über das Bildungssystem auf die Befähigung des Individuums.

Die Furche: Der Markt und der Einzelne - wenn möglich gebildet - konstituieren den liberalen Staat?

Münch: Die herkömmliche Form war es, über Mitgliedschaften in verschiedenen Gruppen in die Gesellschaft integriert zu sein. Die Bildungsexpansion in den entwickelten Ländern hat diese Form der Integration in den Hintergrund gedrängt. Jetzt ermöglicht Bildung, die in Markterfolg umgesetzt wird, die Integration des Einzelnen in die Gesellschaft.

Die Furche: Was macht das liberale Modell derartig attraktiv, dass es von immer mehr Staaten übernommen wird?

Münch: Die konservativen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten bezahlen die Stabilität ihrer Sozialsysteme mit hoher Arbeitslosigkeit. Die Aktivierung des Individuums im liberalen System führt zu verhältnismäßig hoher Beschäftigungsquote und niedriger Arbeitslosigkeit - ist dafür aber mit geringerer sozialer Sicherheit zu bezahlen. Damit diese Staaten weiterhin soziale Marktwirtschaften bleiben, müssen die Investitionen vor allem in den Bereich Bildung gehen.

Die Furche: Der Wahlkampf in Deutschland ist ein gutes Beispiel für diesen Richtungsstreit zwischen sozialdemokratischen und christlich-sozialen Politikern, die dem liberalen Modell zuneigen, und der Linken, die den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat erhalten wollen.

Münch: Hartz iv und Agenda 2010 sind sicher Schritte in Richtung liberales Modell, genauso wie es der Wandel von Labour zu New Labour in England war. Auch die skandinavischen Länder haben liberale Elemente eingebaut: Dänemark, Schweden, die Niederlande ... Deutschland zieht jetzt langsam nach; wir haben ja gesehen, wie schwer es für die sozialdemokratische Regierung von Kanzler Schröder war, diese Veränderungen gegen die innerparteiliche Opposition durchzusetzen.

Die Furche: Ein zentraler Punkt Ihrer Ausführungen in Alpbach war auch, dass in liberalen Staaten die "Devianz" zunimmt. Das heißt, übersetzt aus der Soziologen-Fachsprache, dass liberale Staaten mit einer steigenden Kriminalität konfrontiert sind.

Münch: Man hat im liberalen Wohlfahrtsstaat eine Politik, die an sich durch die Ausweitung des Bildungssystems die Chancen verbessert; immer mehr Menschen gelangen zu einer höheren Bildung; gleichzeitig werden aber umso mehr diejenigen ausgegrenzt, die diese Bildungsanforderungen nicht schaffen. Das bewirkt eine Spannung in der Gesellschaft, die eine wesentliche Ursache für ein von der Norm abweichendes Verhalten ist.

Die Furche: Vom liberalen Staat wird diese Ausgrenzung in Kauf genommen?

Münch: Zum einen ja, zum anderen aktiviert das liberale Modell seine eigenen Gegenmaßnahmen: auf flexible Arbeitsmöglichkeiten achten und Problemgruppen, wie gering qualifizierte junge Männer, in der Beschäftigung halten; anhand meiner Analysen konnte ich feststellen, dass es mit diesen Maßnahmen gelingt, die steigende Kriminalität wieder ein Stück weit zu kontrollieren.

Die Furche: Und wenn es nicht gelingt, werden mehr Gefängnisse gebaut?

Münch: Genau. Das haben die usa getan. Die Inhaftierungsrate ist seit Anfang der 90er-Jahre ganz stark angestiegen, nirgends gibt es so viele Menschen, die im Gefängnis sind - das ist die andere Seite des liberalen Modells.

Das Gespräch führte Wolfgang Machreich.

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