Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Wider die asoziale Solidarität
Die Koppelung des Sozialsystems an die Erwerbsarbeit wird künftig immer mehr Menschen aus dem System ausschließen.
Die Koppelung des Sozialsystems an die Erwerbsarbeit wird künftig immer mehr Menschen aus dem System ausschließen.
Osterreich hat sich, auch dank der Sozialpartnerschaft, in den letzten 25 Jahren zu einer Art Wohlfahrtsstaat entwickelt. Das Wunschbild eines Wohlfahrtsstaates lautet: Jedem jederzeit alles ohne bedarfsgerechte Differenzierung.
Das Wunschbild eines Sozialstaates hingegen lautet: Jedem, der Unterstützung braucht, um \yieder auf die Beine zu kommen, gerade so viel Hilfe und über so lange Zeit, wie er diese Unterstützung nötig hat. Also individuell, dem Bedarf des einzelnen entsprechend.
Der Wohlfahrtsstaat kommt bequem mit einer Art Gießkannensystem aus, mit dem ein lauwarmer Geldregen über alle ausgeschüttet wird. Der Sozialstaat aber muß Werkzeuge ent-wicklen, mit denen die Bedürfnisse einzelner deutlich werden.
In Zeiten der Vollbeschäftigung sind wir davon ausgegangen, daß der Staat genug Geld hat, um allen alles zu finanzieren. Sinkt aber die Zahl der Beschäftigten, sinken auch die Staatseinnahmen. Die Konsequenz daraus ist einfach: Erst muß der Staat Geld aus anderen Bereichen abzweigen, um sie für das Stopfen der Löcher zu verwenden. Wenn nichts mehr da ist, kann der Staat das Geld künftiger Generationen schon heute ausgeben.
Wenn auch das nicht mehr klappt, dann wird das System unfinanzierbar.
Dann kann man zwei Dinge tun: Entweder das System ändern, oder die Empfänger des bestehenden Systems reduzieren. Genau das Letztere beginnt heute. Immer deutlicher wird, daß gerade auch die Gewerkschaften versuchen, Solidarität teilbar zu machen. Beifall findet man dafür, wenn man Nicht-Österreicher als erste aus dem Solidaritätssystem ausschließt. Das ist zwar asozial, aber für rund 25 Prozent der Osterreicherinnen akzeptabel. Jedenfalls den Wählerstimmen nach zu urteilen. Nur: damit ist zwar Stimmung gemacht, die ersparten Beträge sind aber lächerlich niedrig.
Bleibt als nächstes, die Gruppe der Nicht-Arbeitenden auszugrenzen. Das trifft dann die sogenannten „Arbeitsscheuen”, von denen es aber auch in
Österreich nur sehr wenige gibt, und es werden auch nicht mehr, wenn kleinformatige Zeitungen Einzelfälle an den Pranger stellen. Daneben trifft es aber - quasi als Streueffekt - auch ganz andere: die alleinerziehende Mutter ohne Job, den Schulabgänger ohne Lehrstelle, den unvermittelba-ren Arbeitslosen, den ungelernten Arbeitslosen, den Wegrationalisierten -und immer wieder die Frauen.
Vollzeitbeschäftigung wird es in Zukunft vielleicht noch weniger geben, möglicherweise nur noch für zwei Drittel der Arbeitsfähigen. Ein Sozialversicherungssystem, das fast ausschließlich an Erwerbsarbeit gekoppelt ist, schließt also bis zu einem Drittel der Osterreicherinnen aus dem System aus. Und dafür geht es den restlichen zwei Dritteln ganz leidlich gut.
Ich nenne das asoziale Solidarität.
Einen Ausweg dazu gibt es: .Er erfordert Mut und Weitblick. Und er ist zunächst für diejenigen, die das bisherige System auszunutzen wußten, ein klein wenig schmerzhaft. Aber diesen Preis ist es wert, wenn der soziale Friede in unserer Gesellschaft auch über das Jahr 2020 erhalten bleibt. Und wenn Österreich nicht zu einer Gesellschaft mutiert, in der es zwei Dritteln ganz gut geht, ein Drittel aber (also runde 3 Millionen Bürgerinnen) aus dem Sozialsystem herausgedrängt wird. Ich bin sehr froh darüber, daß sich in Österreich nicht nur Caritas-Direktoren dieser Problematik bewußt sind (katholische Bischöfe meiden das heiße Eisen zumeist), sondern daß auch eine politische Partei den Mut findet, konkrete Alternativmodelle zu benennen - auch wenn das weniger Stimmen bringt als populistische Großrednerei.
Das Modell der liberalen Steuerreform und Grundsicherung will eine neue, bedarfsgerechte Solidarität ermöglichen und zugleich die Chance auf neue Arbeitsplätze eröffnen. Gerade für diejenigen, die von der Vollzeitarbeit immer häufiger ausgeschlossen werden, sind Teilzeitjobs eine echte Hilfe. Flexible und individuelle Arbeitsverhältnisse sind aber nur möglich, wenn die Steuer- und Sozialpolitik Abschied nimmt von der Vorstellung des Alles oder Nichts: Entweder arbeitet jemand oder er arbeitet nicht und erhält Sozialunterstützungen. Eine flexible, geringen Verdienst stützende Sozialhilfe gibt es bei uns nicht. Wer heute aber nur ein wenig arbeitet (also gerade eben über der Minimalgrenze des erlaubten Zusatzverdienstes), der fliegt schnell aus der Arbeitslosenunterstützung und aus der Sozialhilfe heraus. Rleibt also die Schwarzarbeit. Denn die meisten Österreicherinnen wollen ja arbeiten, nur gibt es eben nicht mehr für alle Vollzeitjobs.
Die Grundsicherung aber stellt jedem Bürger einen finanziellen Mindestanspruch zur Verfügung, mit dem die elementaren Iebensbedürfnisse abgedeckt werden können. Dieser
Grundsicherungsbetrag in Höhe von (heute gerechnet) 6.000 bis 8.000 Schilling pro Monat ersetzt alle bisherigen Sozialtransfers wie Arbeitslosengeld, Karenzgeld oder Sozialhilfe. Anspruchsberechtigt sind für die Grundsicherung nicht nur die, die zumindest einmal regelmäßig vollzeitbeschäftigt waren, sondern alle, die unbeschränkt steuerpflichtig sind.
Damit entfallen auch große Teile der heute nötigen Sozialbürokratie, die sowieso kaum mehr durchschaubar ist. Finanzierbar ist die Grundsicherung aber nur, wenn sie als Teil eines neuen Steuersystems gesehen wird. Grundlage ist eine Negativsteuer, die mit dem steuerpflichtigen Einkommen verrechnet wird und überall dort vom Finanzamt ausbezahlt wird, wo die Steuerpflicht niedriger ist als der Grundsicherungsanspruch (vgl. das 2. Beispiel). So werden auch Teilzeitjobs nicht als Alles oder Nichts verrechnet, sondern ins System einberechnet. Damit ist zusammen mit dem .Steuerfreibetrag (in Höhe von 2.000 bis 4.000 öS im Monat) ein Arbeitsanreiz auch für Teilzeitjobs geschaffen.
Da soziale Gerechtigkeit nur möglich ist, wenn sie durch eine wettbewerbsfähige Wirtschaft finanzierbar bleibt, sollen die f ,ohnnebenkosten reduziert werden, was einen positiven Effekt für die Arbeitsplatzschaffung mit sich bringt. Damit verbunden ist auch eine Erneuerung der Gewerbeordnung, die den Schritt in die Selbständigkeit erstrebenswert macht statt ihn wie heute noch großteils zu verunmöglichen. Die geringeren Steuereinnahmen werden u.a. durch einen erheblichen Entbürokratisierungsef-fekt ausgeglichen. Und das Pensionssystem soll langfristig um das zweite Standbein der privaten Pensionsvorsorge ergänzt werden, bei dem jeder tatsächlich für seine eigene Pensionsvorsorge zahlt und nicht mehr das unfinanzierbar gewordene System des Wohlfahrtsstaates vorfinanziert.
Das Liberale Forum hat damit einen ersten konkreten Beitrag zur mutigen Neugestaltung des Sozialsystems geleistet. Alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte in Osterreich, auch die Kirchen, sind eingeladen, sich in Wort und Tat an der Diskussion zu beteiligen. Weil die asoziale Solidarität am Ende ist. Und weil unsere Gesellschaft nur dann auch im nächsten Jahrhundert in sozialem Frieden leben kann, wenn echte Solidarität ermöglicht wird.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!