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Widerspruchsvolles ASVG

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Der Entwurf zur 7. Novelle des ASVG, die vom Nationalrat am 14 Juli 1960 beschlossen werden wird, beschäftigt sich in der Hauptsache mit der Erhöhung der Richtsätze. Das Gesetz ist kurz, aber die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, sind von grundsätzlicher Bedeutung. Sie führen Alt- und Neurentner nicht zusammen, sondern erhalten die durch Teilreformen entstandene Kluft zwischen bestimmten Gruppen von Alt- und Neurentnern zugunsten der Altrentner. Wie das kam, davon soll im folgenden die Rede sein.

Seitdem es ein modernes Pensionsversiche-rungsgesetz gibt, spielt die Frage der M i n-destrente eine Rolle.

In den Zeiten zwischen den beiden Weltkriegen, in der bedauerlicherweise nur die Privatangestellten ein modernes Pensionsversiche-rungsrecht besaßen, wurden schon durch das

3. Pensionsversicherungs-Überleitungsgesetz vom

4. Juli 1924, das den Übergang vom alten Pen-sionsversicherungs-Stammgesetz zum Angestelltenversicherungsgesetz vorbereitete, Mindestsätze für die Invaliditäts- und Altersrente, für Erziehungsbeiträge und für hilflose oder über 55 Jahre alte Witwen eingeführt. Das Angestelltenversicherungsgesetz aus dem Jahre 1926 sah bei einer Bemessungsgrundlage bis zu S 120.— eine Mindestrente von S 50.—, bei einer Bemessungsgrundlage von mehr als S 120.— bis S 175 — von S 60.— vor. Auch das Gewerbliche Sozialversicherungsgesetz aus dem Jahre 1935 kannte eine Mindestrente von S 50.—.

Die Entwicklung des Sozialversicherungsrechtes nach dem zweiten Weltkrieg ist infolge der Auswirkungen der Lohn- und Preisabkommen, infolge des Einbaues fester, das heißt von Beitragshöhe und Versicherungsdauer unabhängiger Rentenbestandteile durch eine weitgehende Nivellierung der Renten gekennzeichnet. Diese Tatsache war besoTidefs'-in des seit 19Ö9 wirksamen Pensionsversicherung der Angestellten zu beklagen. Durch das Sozialwersieherungs-Anpassungsgesetz des Jahres 1951 war ein Mindestruhegeld von S 172 — eingeführt worden; zu diesem Mindestruhegeld kam die Ernährungszulage im Betrage von S 239.—. Sie gebührte jedem Ruhegeldempfänger, der nicht vom Bezug ausgenommen war, in gleicher Höhe, ohne Rücksicht darauf, ob er die kleine Wartezeit von 60 Monaten gerade erfüllt hatte oder auf eine Versicherungsdauer von 40 Jahren zurückblicken konnte. Dem Mindestruhegeldbezug von S 411.— (S 172- + S 239.-), mit Wohnungsbeihilfe S 441.—, stand ein durchschnittliches Altersruhegeld von nur S 608.— und ein solches wegen Berufsunfähigkeit von nur S 573.— gegenüber.

Entnivellierung und Rückkehr zum Versicherungsprinzip wurden nun die Losung. Das ASVG, das seit 1. Jänner 1956 gilt, hat in der Tat wieder das strengere Versicherung s-p r i'n z i p stärker betont. Es kennt keine Mindestrente mehr, sondern nur Renten, deren Höhe ausschließlich von Einkommen und Versicherungsdauer abhängig ist. Für die Bezieher von kleinen und kleinsten Renten, die außer ihrer Rente kein anderes Einkommen beziehen und daher auch eine bescheidenste Lebenshaltung nicht gesichert haben, hat das ASVG als eine Art Fürsorgeleistung die Einrichtung der sogenannten Ausgleichszulage geschaffen.

Der Ausgleichszulage liegt folgender Gedankengang zugrunde: Der Gesetzgeber stellt einen Richtsatz auf, von dem er annimmt, daß er ausreicht, eine bescheidene Existenz zu gewährleisten. Der kleine Rentenbezieher hat sein gesamtes Einkommen nachzuweisen. Die Differenz, die zwischen Gesamteinkommen und Richtsatz besteht, wird dem Rentenempfänger von der zuständigen Pensionsversicherungsanstalt als Ausgleichszulage auf Kosten des jeweiligen Fürsorgeträgers, zur Zeit vom Bund, gewährt. Die Höhe der Ausgleichszulage hängt also im wesentlichen von der Höhe des Richtsatzes und davon ab, welche Einkommen, die neben der Rente bezogen werden, auf das Gesamteinkommen angerechnet werden.

Zum besseren Verständnis wollen wir zunächst die Entwicklung in der Höhe des Richtsatzes für die einzelnen rentenberechtigten Gruppen darstellen:

Der Bezieher einer kleinen Rente, der für eine Gattin zu sorgen hat, wird also ab 1. November 1960 zu seiner Rente, wenn das Gesamteinkommen unter dem neuen Richtsatz von (S 680.- + S 320.-) S 1000.- liegt, die Differenz als Ausgleichszulage erhalten, während er bis zum 31. Oktober 1960 nur die Differenz von seinem Gesamteinkommen auf S 825.— erhält. Diese Richtsatzerhöhung ist den Betroffenen von ganzem Herzen zu gönnen.

Die zweite wichtige Komponente, von der die Höhe der Ausgleichszulage abhängt, ist die Bestimmung, die darüber Auskunft gibt, welche sonstige Einnahmen außerhalb der Rente nicht auf das Gesamteinkommen zählen. Die Liste der auf das Gesamteinkommen nicht anzurechnenden Einkünfte und Einnahmen ist seit dem Stammgesetz ständig gewachsen.

Es ist selbstverständlich, daß Kinderbeihilfen und Familienbeihilfen, Wohnungsbeihilfen, Hilf-losenzuschüsse und Blindenzulagen als zweckgebundene Zuschüsse keine Anrechnung finden dürfen. Es ist auch verständlich, daß Gnadenpensionen privater Dienstgeber auf das Gesamteinkommen nicht angerechnet werden können. Der Dienstgeber, der mit seiner freiwillig gewährten Pension nur die Fürsorge entlastet, würde diese Pensionsleistung sofort einstellen.

Bei der Erhöhung der Altrenten, also der Vor-ASVG-Renten, auf die auch die Bestimmungen über die Ausgleichszulagen anzuwenden sind, wurden aber die Erhöhungen der Renten nach der 3. und 5. Novelle von der Anrechnung auf das Gesamteinkommen ausgenommen. Zu welchen Konsequenzen das führt, soll an zwei Beispielen aus der Angestelltenpensionsversicherung dargestellt werden:

Aus dieser Aufstel'rrj ergibt sich, daß die Bruttoleistung an diesen Rentner den Richtsatz nach der 7. Novelle um S 69.10 überschreitet. Ein ASVG-Rentner, der am 1. Jänner 1957 eine Rente gleicher Höhe von S 498.20 zuerkannt erhielt, hat die gleiche Ausgleichszulage von S 181.80 und erhält eben nur eine Leistung'in der Höhe des Richtsatzes von S 680.—.

Das zweite Beispiel einer Witwenrente zeigt den Unterschied noch krasser:

Rente Ausgleichs- Richtsatz Bruttozulage leistung ab SS S S 1. 1. 1957 414.80 135.20 550— 550 — 1. 1.1958 442.90 135.20 550.— 578.10 1. 4.1959 442.90 * 185.20 600.— 628.10 1. 1. 1960 524.20** 185.20 600.— 709.40 1. 11. 1960 524.20 265.20 680— 789.40 * Erhöhung durch die 3. Novelle: S 12.60 ** Erhöhung durch die 5. Novelle: S 56.50

Diese Witwenrentnerin wird nach dem Entwurf zur 7. Novelle die unveränderte Ausgleichszulage beziehen, so als ob sie nur eine Rente von S 414.80 bezöge, wiewohl sich ihre Rente durch die 3. und 5. Novelle um S 109.40 erhöht hat. Die Nichtanrechnung der Erhöhungen nach der 3 und 5. Novelle erklärt diesen Sachverhalt.

Eine Witwenrentenbezieherin, die nach dem ASVG berentet wurde, also eine Neurentnerin mit der gleichen Rentenhöhe von S 414.80, wird in Zukunft nach dem Entwurf zur 7. Novelle nur S 680.— Bruttoleistung beziehen.

Die zeitliche Koppelung verschiedener Gesetze mag politisch begründbar sein, sachlich führt sie in diesem Falle statt zur Synthese zur Vertiefung der Gegensätze zwischen Neu- und Altrenten, zu Widersprüchen und Ungerechtigkeit, weil ungleichen Behandlung. Die Sozialversicherung ist dank ihrer Breitenwirkung eine res politica. Jede Gesetzesinitiative ist daher in Gefahr, von propagandistischen Tendenzen überschattet zu werden, die die Endkonsequenzen nicht überdenken, ja gar nicht dazukommen, sie zu überlegen, weil es immer nur um Teilausschnitte geht. 1

Darum ist eine Gesamtreform dringend notwendig, bevor noch die Ungereimtheiten und Widersprüche im Sozialversicherungsercht von denei in obigen Ausführungen nur eine llarge-stellt werden konnte, nahezu unlösbar werden.

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