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Wie lebt man in der EWG?

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Die Untersuchung der Lebensverhältnisse in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die von der Europäischen Kommission in Brüssel laufend beobachtet werden, ergibt neben vielen Übereinstimmungen auch manche Differenzen. Sie erklären sich aus der verschiedenen historischen Entwicklung. Geht man dabei von den Verbrauchsausgaben je Einwohner und Jahr aus, so zeigt sich, daß sie im privaten Bereich mit 5000 DM (1250 US-Dollar) in Frankreich am höchsten sind. Belgien folgt mit einem Unterschied von nur 200 DM, Luxemburg mit einem nur geringfügig niedrigeren. Dann erst kommt die Bundesrepublik’ Deutsch- I j-mit rund 4500 DM ner “und Jahr. Holland’bringt es’ auf 3700 und Italien auf nicht ganz 3000 DM. Das ist nun allerdings beinahe eine Milchmädchenrechnung. Die wissenschaftliche Statistik muß auch die Sparleistung der einzelnen Länder und die unterscheidliche Kaufkraft ihrer Währungen berücksichtigen. In der lĮindesrepublik Deutschland weist man darauf hin, daß dann der Lebensstandard in ihr höher erscheint, als nach der nominellen Höhe der Verbrauchsausgaben anzunehmen ist.

An der Spitze stehen überall die Ausgaben für Lebensmittel. In Italien machen sie fast 46 Prozent der gesamten Verbrauchsausgaben aus. Die Franzosen wenden für ihre — zugestandenermaßen ausgezeichnete — Küche rund 40 Prozent ihrer Ausgaben auf, die Bundesrepublik etwa 39 Prozent, die Holländer nur 33 Prozent. Einen anderen Maßstab kann man in den Wohniungsmieten sehen. Sie sind am höchsten in Belgien (mehr als 22 Prozent der Verbrauchsausgaben) und ungefähr gleich hoch in Luxemburg. An dritter Stelle steht Italien mit rund 18 Prozent, knapp gefolgt von der Bundesrepublik Deutschland, deren Einwohner sich ihr Heim fast ebensoviel kosten lassen, den Niederlanden mit 16 und Frankreich mit 15,15 Prozent. Darin drückt sich unter anderem aus, daß in manchen Mitgliedsstaaten die Wohnungsmieten noch subventioniert werden. Der Wegfall dieser Unterstüzung und der eingefrorenen Mieten (Mieterschutz) würde das Bild vielleicht rasch ändern.

In diesen Zusammenhang gehören die Zahlen des Wohnungsbaus. Von 1948, dem Jahr der deutschen Währungsreform, bis Ende 1966 wurden in Belgien 818.000 Wohnungseinheiten errichtet, 53 Prozent von ihnen mit öffentlicher Unterstützung, in der Bundesrepublik Deutschland aber 9,418.106, die rund zur Hälfte s’ufoventioniert wurden, in Frankreich 4,409.200, wozu die öffentliche Hand 85 Prozent beitrug, in Holland 1,418.106 mit 84 Prozent öffentlicher Unterstützung und in Italien 4,288.000, ohne daß die Höhe der Subventionen bekannt wäre. AU das klingt imponierend, ist es aber weniger, wenn man es mit dem Bevölkerungszuwachs vergleicht. Die 10,5 Millionen Belgier sind in der Berichtszeit um 10,5 Prozent angewachsen, die 57,4 Millionen Deutschen — jetzt zählen sie rund 60 Mil

Honen — um 15 Prozent, die 94,4 Millionen Franzosen um 18,5 Prozent, die 51,8 Millionen Italiener um 10,9 Prozent und die 12,4 MiHionen Holländer um 23,8 Prozent. In Belgien nahm die Zahl der Wohnungseinheiten um 32 Prozent, in Deutschland um 94 Prozent, in Frankreich um 33, in Italien um 37 und in Holland um 73 Prozent zu. Ohne jede öffentliche Förderung entstanden in Belgien ‘2,2 Einheiten j,e’ Ö0p”Ein- wohner jährlich, in Deutschland 4,4, in Frankreich 0,6 und in Holland 0,9. Die öffentliche Förderung des Wohnungsbaus in Italien ist, wie erwähnt, nicht genau bekannt. Unterschiedlich ist nämlich auch die Form der Förderung. Italien erhebt für den Wohnungsbau eine Abgabe von der Lohnsumme, zu der der Arbeitgeber etwa 70 Prozent beiträgt. Die Regierung finanziert den Bau und verkauft die Wohnungen an Genossenschaften, die sie an einen Kreis von Berechtigten vermieten. Holland gewährt mit 4 Prozent zu verzinsende Darlehen mit 50 Jahren Laufzeit für die Baukosten und 75 Jahren für den Grundstückerwerb. In Luxemburg fördert der Staat — auf Grund eines Gesetzes von 1906! — nur den Eigenheimerwerb. Die Zahl der Eigenheime ist denn auch um 55 Prozent angewachsen. Die Regierung gewährt Bauprämien sowie Darlehen in der Höhe von 50 bis 60 Prozent der Baukosten, die einschließlich des Grunderwerbs mit 5 bis 5,5 Prozent verzinst werden. Die Zeit, in der in Deutschland der Wohnungsbau durch Steuernachlässe erleichtert wurde, ist seit Jahren vorbei. In allen Ländern der EWG sind die Löhne im Baugewerbe stärker gestiegen als die Produktivität. Das hob die Rationalisierungseffekte wieder auf. In der Berichtszeit ent-fielen von den gesamten Neubauten in Holland 53, in der Bundesrepublik Deutschland 47, in Frankreich 30 und in Italien 22 Prozent auf Einfamilienhäuser.

Immerhin ist es nicht so, daß die Einwohner der Mitgliedsstaaten ihr Geld nur für Essen fund Wohnen ausgeben. Für Körper- und Gesundheitspflege etwa legt der Holländer fast 11 Prozent seiner Verbrauchsausgaben an, der Deutsche rund 10, der Belgier 9, der Italiener 6,5 Prozent. Die Franzosen lassen sich Verkehr, Nachrichtenübermittlung und Verwandtes 11 Prozent ihrer Ver- brauchsausgaben kosten, die Holländer, Belgier und Luxemburger nicht ganz 10, die Deutschen etwa 8,5 und die Italiener weniger als 8 Prozent. Bilcl.mg und Unterhaltung wird bei den Holländern am höchsten geschätzt — 9 Prozent der Verbrauchsausgaben. Mit knapp 7 Prozent folgen Deutschland und Frankreich. Die Belgier halten nicht ganz 6 Prozent für ausreichend, während sie sich ihre Bekleidung 12,5 Prozent kosten lassen. Am elegantesten müßten die Luxemburger sein (fast 15 Prozent für Bekleidung) und nach ihnen die Holländer (mehr als 13 Prozent). Die Franzosen tragen 11,5 Prozent ihrer Verbrauchausgaben zu Schneider, Schuster und Konfektion, die Deutschen nicht ganz 11 Prozent, nur wenig mehr als die Italiener mit 10 Prozent.

Unvorhergesehene Ereignisse

Die angeführten Zahlen (und Prozente gelten, wie gesagt, für Ende 1966. Daß seither unvorhergesehene Veränderungen eingetreten sind, beweist das Beispiel Frankreichs. Der am 17. Mai 1968 ausgebrochene Generalstreik hat das Land unmittelbar 20 bis 25 Milliarden Francs gekostet. 70 bis 80 Prozent der Wirtschaft waren stillgelegt, am schwersten betroffen Automobil- und Stahlindustrie. Bei Renault allein betrug der Ausfall 75.000 bis 85.000 Wagen. Insgesamt dürften 200.000 Wagen weniger gebaut worden sein. Der Einnahmeverlust der Volkswirtschaft wird auf eine Milliarde Francs (200 Millionen US-Dollar) geschätzt. Die Stahlindustrie förderte eine Million Tonnen im Wert von 600 Millionen Francs weniger. ;i,Den iWlich in den Sommermonaten, in denen — wie überall — jedermann auf Urlalub geht, nicht möglich. Die mit den Gewerkschaften vereinbaren Lohnund Sozialabkommen bringen Kostenerhöhungen, die zu allgemeinen Preissteigerungen von 5 bis 10 Prozent führen dürften. Die Konjunkturbelebung des Frühjahrs hat sich damit erledigt. Das Bruttosozialprodukt wird infolge des Ausfalls um rund 6 Prozent oder 30 Milliarden Francs rückläufig sein. Ein Beispiel: Während des Streiks waren die 1000-Zimmer-Hotels an der Riviera ganz schwach besetzt. Die erwarteten Deviseneinnahmen aus dem Fremdenverkehr von vier Milliarden Franc blieben zum großen Teil aus. Beim Wohnungsbau entstand ein Ausfall von rund 30.000 Neubauwohnungen.

Es zeigt sich also, daß man in der EWG zwar recht gut, aber nicht ungefährlich lebt. Die Revolte1 Ser’ außerparlamentarischenAAjgpg it nj in Frankreich hat das gezeigtDiese außerparlamentarische Opposition gibt es aber auch in den anderen Mitgliedsstaaten der EWG.

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