Wie wir WOHNEN

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Soziologische Reflexionen über die Verdörflichung der Stadt, überforderte Nachbarschaften und falsch verstandene Flexibilität.

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Soziologische Reflexionen über die Verdörflichung der Stadt, überforderte Nachbarschaften und falsch verstandene Flexibilität.

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Wohnen ist der Kern unseres sozialen Lebens. Es spielt sich in einer Innenwelt, der Wohnung selbst ab, und in einer Außenwelt, in der Einbindung der Wohnung in die Gebäude und den Stadtteil. Noch genauer kann man in private, halb-private, halb-öffentliche und öffentliche Räume unterscheiden. Gerade die "Halb-Distanzen" sind aktuell Fokus in Architektur und Städtebau, denn dies sind die Bühnen der "vertrauten Nähe" und der "distanzierten Nähe".

Für die meisten Menschen ist der Wohnort Ausgangspunkt und Endpunkt der Aktivitäten, der Ort der Identifikation, oft auch ihre Heimat. Wo und wie wir wohnen, gibt aber nicht nur Auskunft über uns selbst, sondern durch die Relationen und Unterschiede auch Hinweise auf die vergangene und gegenwärtige Gesellschaft: Die meisten Gebäude sind gebaut, nur etwa knapp ein Prozent wird in den meisten wachsenden europäischen Großstädten pro Jahr hinzugebaut.

Das Recht, wo man wohnt, zuhause zu sein

Wohnen hat etwas Basales - ein Dach über dem Kopf, Licht und Luft, Kommunikations- und Rückzugsraum sowie Bezahlbarkeit. Wohnung ist eben keine Ware. Es gibt aber auch grundlegende Erwartungen an eine "passende" Nachbarschaft, an ein angemessenes Ansehen aufgrund der Adresse und an den Ort der Selbst-Identifikation - man will dort, wo man wohnt, zuhause sein.

Gerade in den innenstadtnahen Stadtteilen, in denen die Zuwanderungsrate hoch ist, sind in den letzten Jahren "neue Nachbarn" gekommen, mit denen die Alteingesessenen wenig anfangen konnten und können: Gastarbeiter, Studierende, ältere Migranten, Asylwerber. Parallel wandelte sich die Infrastruktur vom Greißler zu Callcenter, Handystores, Nail Studios, Night-Bars und Laufhäusern. An anderen Orten kamen nach den Gastarbeitern und Studierenden die Kreativen, die "angesagten" Lebensstile und schließlich die Investoren. Während im ersten Fall den Alteingesessenen ausschließlich die Nachbarschaft "entfremdet" wurde, steigt im zweiten das Risiko, die Wohnung durch Mietsteigerungen und Umwandlungen in Eigentumswohnungen zu verlieren.

Neben den Grundbedürfnissen des Wohnens, die sich an den klimatischen Bedingungen, den Gewohnheiten und dem allgemeinen Wohlstandsniveau bemessen, wird die Variation innerhalb der Gebäude, der Wohnformen, der -orte und Erwartungen durch gesellschaftliche Unterschiede bestimmt. Dabei spielen drei Dimensionen eine bedeutsame Rolle: das Einkommen oder Vermögen, der Haushaltstyp und die Wertvorstellungen.

Durch alle geschichtlichen Perioden hindurch hat der unterschiedliche Wohlstand zu meist extremen Unterschieden des Wohnens geführt: Die wenigen Reichen lebten im Überfluss und auch die unmittelbare Apanage hatte noch ein ansehnliches Dach überm Kopf, während die große Mehrheit der Unfreien in erbärmlichen Hütten hausten. Auch wenn mittlerweile der Wohlfahrtsstaat - in Österreich intensiver als anderswo - die Wohnbedingungen der einkommensschwachen Haushalte verbesserte, bleiben die Unterschiede der Wohnbedingungen zwischen den einkommensstarken und -schwachen Gruppen unübersehbar.

Die Wohnbauprojekte der Moderne folgten zwar dem Ziel der Funktionstrennung, sollten aber eine gewisse soziale Mischung sichern. Das gelang bei der Erstbelegung weitgehend, auch wenn fast ausschließlich die sozialdemokratische Klientel junger österreichischer Familien erreicht wurde. Doch im Bestand sortierten sich die Nachbarschaften sozial aus: Junge Familien drängten an den Stadtrand oder ins Umland, die unteren Mittelschichten in den Gemeindebau, der zeitgerechte sanitärtechnische Standards bot, und die gehobenen Schichten in die attraktiven suburbanen Kleinstädte mit historischem Stadtkern.

Doch nicht nur die Mietzahlungsfähigkeit und -bereitschaft sowie die Kaufkraft bilden Trennlinien in einer Stadtregion, sondern auch die Haushaltsgröße und -form sowie das Alter. Diese "traditionellen" Trennlinien, verändern sich gegenwärtig insofern, als in den innenstadtnahen Quartieren die Zahl der Haushalte mit Kindern mittlerweile höher ist als am Stadtrand und in manchen Umlandgemeinden.

Segregation als Spiegel sozialer Ungleichheit

Relativ neu sind hingegen Abgrenzungen nach Wertvorstellungen und Lebensstilen, was durch das so genannte "Themenwohnen" im Rahmen von Bauträgerwettbewerben auch von der Angebotsseite zusätzlich zumindest gefördert, wenn nicht gar erst ermöglicht wird. Diese aktuellen Trends sind Reaktionen auf die zunehmende gesellschaftliche Vielfalt, weil sie "sicherstellen", dass die Nachbarn "passen" und das überfordernde Fremde einer modernen Stadt draußen bleibt. Man kann also von "normativen gated communities" sprechen.

Die Folge solcher Abgrenzungen nach sozialen Milieus ist, dass man sich gegen Veränderungen dieser dörflichen Gemeinschaften massiv zur Wehr setzt - in Beteiligungsverfahren, mittels einstweiliger Verfügungen oder mit direkten Interventionen im Rahmen sozialer Netze.

Gegen das Auseinanderdriften verfolgen die meisten nord- und westeuropäischen Kommunen die Strategie der sozialen Mischung. Doch diese Strategien sind sozial höchst selektiv: Gegen eine räumliche Konzentration der Wohlhabenden und der bildungsnahen Mittelschichten ist - im Gegensatz zu den Armutsquartieren und den Quartieren der Migranten - bislang noch nie interveniert worden. Mittels Belegungs-Strategien, Gebäuden mit gemischten Förderwegen oder unterschiedlichen Wohnungsgrößen wird versucht, bei der Erstbelegung unterschiedliche Haushalte in einem Gebäude zusammenzufassen. Im Laufe der Zeit differenziert sich diese Mischung meist jedoch aus, indem die einkommensstärkeren und bildungsnäheren Haushalte ausziehen.

Angelsächsische und andere neo-liberale Staaten verfolgen eher eine aufwertende Mischungspolitik. Indem sie in den "Problemquartieren" Eigentumswohnungen errichten, befördern sie wissentlich eine Gentrifizierung. Das wiederum erzeugt Widerstand durch die umfangreichen "Recht auf Stadt"-Bewegungen und Hausbesetzungen.

Einen empirischen Beweis, dass die Mischung benachteiligter sozialer Gruppen mit Mittelschichten im Quartier in westund nordeuropäischen Städten deren Integration positiv beeinflusst werden kann, gibt es bisher noch nicht. Denn eine Mischung bedeutet eben auch, dass in der Nachbarschaft Menschen wohnen, mit denen man nicht unbedingt zurechtkommt und dadurch die Konflikte zwischen den Gruppen zunehmen -hierfür wurde in Deutschland der Begriff "überforderte Nachbarschaft" geprägt.

Soziale Mischung ist kein Ruhekissen

Für Städte in Nordrhein-Westfalen konnte nachgewiesen werden, dass im Verhältnis zwischen Deutschen und Türken der Ausländeranteil eines Viertels kaum eine Rolle spielt. Entscheidende Vermittlerfunktionen haben hingegen die lokale politische Kultur, das soziale Klima, die sozialen Netze und die Werthaltungen vor Ort.

Im Geschosswohnungsbau wird auf aktuelle gesellschaftliche Trends reagiert, häufig aber auch über-reagiert. Die heutige Gesellschaft werde zunehmend durch Individualität geprägt, woraus Architekten ableiten, dass es möglichst viele unterschiedliche Grundrisse in einem Gebäude geben müsse. Mit dem Begriff "Individualität" wird jedoch nicht verstanden, dass jeder tue und lasse, was er will, sondern dass die Prägungen aus der Kindheit an Bedeutung verlieren, woraus die Möglichkeit, aber auch der Zwang entsteht, die eigene Entwicklung zusammenbasteln zu müssen.

Auf die zunehmende Flexibilität von Karrieren und Tagesabläufen wird durch verschiebbare Wände und zuschaltbare Räume reagiert. Dabei wird übersehen, dass viele traditionelle und neue Formen des Wandels Umzüge erfordern - in eine andere Stadt, an einen geeigneteren Standort in der Region, in eine kleinere oder größere Wohnung - und deshalb nicht innerhalb einer Wohnung aufgefangen werden. Auch, wenn sie noch soflexibel geplant ist.

Der Autor leitet den Fachbereich Soziologie der Fakultät für Raumplanung an der Technischen Universität Wien

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