Würde, ganz ohne Arbeit

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Welche Fragen sind es, die an einem 1. Mai zu stellen und zu beantworten sind? Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Aber gerade wer sich um die Würde des Menschen annimmt, muss das Entwürdigende am Kapitalismus beseitigen.

Der Mensch definiert sich nicht über Arbeit allein. Erst recht nicht über Erwerbsarbeit. Wohl wahr. Dennoch wären die dieser Einsicht Teilhaftigen - namentlich die Vertreter der christlichen Soziallehre, Konservative und andere - ganz gut beraten, sich mit der Arbeit unter dem Aspekt politischer Kritik zu befassen. Dieses Geschäft besorgen bisher andere, was noch anginge, führte es nicht durch Missbrauch zu einem unerwünschten Ergebnis.

Seit und mit Karl Marx scheint politische Kritik sowie jene an den herrschenden Verhältnissen eine Domäne der politischen Linken zu sein. Vieles hat sie trefflich analysiert und formuliert. Es ist und bleibt ein Verdienst des früher sogar der deutschen SPD etwas zu linken Sozialphilosophen Oskar Negt, die Arbeitswelt bis zur Gegenwart gründlich analysiert zu haben. Sein jüngstes, kürzlich Deutschlands Wochenzeitung Das Parlament beiliegender Essay trägt den gleichen Titel wie sein Monumentalwerk "Arbeit und menschliche Würde“: Arbeitslosigkeit ist ihm Gewaltakt.

Schicksale der Generation Praktikum

Arbeit und die dadurch geschaffenen Werte seien voneinander entkoppelt, sagt Negt zur Problematik der Working Poor, der arbeitenden Armen. Deren Erwerbseinkommen reicht fürs Überleben. Doch wer fortwährend in prekären Lebensverhältnissen existieren müsse, der "verliert den Sinn individueller Lebensplanung“. Genau das ist gegenwärtig Schicksal zu vieler, die lediglich ihre Arbeitskraft einzusetzen haben, die keineswegs Geld für sich arbeiten lassen können, was ohnedies ein brisanter Zynismus ist und eingeschränkt gehörte.

Um bei den unsicheren Arbeitsverhältnissen zu bleiben: Genau diese sind das Schicksal von Wanderarbeitern, von Migranten, von Wirtschaftsflüchtlingen. Das sind die Lebensumstände von Hunderten jungen, bereits gut ausgebildeten Menschen, die Dutzende an Bewerbungen absenden, deren Adressaten sich kaum die Mühe der Absage machen. Genau das ist das Leiden der Generation Praktikum. So sieht es aus, wenn junge Frauen und Männer an Schulen und an Kliniken, in Unternehmen, Kleinbetrieben und in Netzwerken Beschäftigung für ein bis drei Jahre erhalten, um dann neuerlich bangen und hoffen zu müssen. Aus vielen kleinen Projekten gelingt das große Projekt Leben eben nicht. Es bedarf des Sinnes, der sich erst aus Vertiefung und Bestand ergibt.

Genau diese Zusammenhänge hat, auch darin ist Negt zuzustimmen, der in den letzten zwei Jahrzehnten entfesselte Kapitalismus zerrissen. Die Folge in Negts Worten: "Der Erschöpfungszustand der Arbeitenden dieser Gesellschaft hat einen Grad erreicht, der die Identität der Subjekte antastet und die Gesellschaft mit einer depressiven Gefühlslage überzieht.“ Stimmt. Wobei zur Depression der breiten Masse das Glücksgefühl einiger weniger kommt, ein besonders gutes Geschäft gemacht, Steuerlücken genutzt zu haben oder dem Staatsanwalt entkommen zu sein. Entlang des Grabens zwischen diesen Gefühlslagen, in dieser sozialen Kluft, entwickelt sich Sprengstoff.

Ängste nehmen, nicht instrumentalisieren

Menschen im Prekariat ist angstfreies Leben nicht möglich. Ihre Ängste werden wie jene aller Elenden von Populisten formuliert und in die politische Arena getragen. Dort treffen sie auf die Linke, die Kapitalismus und Faschismus schon immer für untrennbare Zwillinge hielt. Dann drohen - wie gehabt - in Getöse und Unvernunft die Demokratie ausgehebelt und Kriege befeuert zu werden, wenn nicht die politische Mitte mit sozialer Marktwirtschaft für Ausgleich der Interessen, für Erfüllung der Bedürfnisse, Stabilität der Gesellschaft sorgt. Darum geht es.

Besinnung auf Leistungs- und auf Verteilungsgerechtigkeit sollten jene Anstrengungen leiten, die sich aus dem historischen 1. Mai ergeben. Noch eine Ehrenrunde Klassenkampf in den inzwischen menschenleeren Fabrikshallen bringt es nicht. Auf dem Prüfstand steht das gemeinsame Menschenbild unserer Gesellschaft. Es als Erstes mit Würde auszustatten heißt, entwürdigende Umstände zu ändern.

* claus.reitan@furche.at

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