Zwischen Kuhflade und Speckgürtel

19451960198020002020

Im Zeitalter der Globalisierung erfinden sich Orte neu. Über hohe Mieten und ausgefranste Stadtränder, touristische Erholungsgebiete und inszenierte Volkskultur.

19451960198020002020

Im Zeitalter der Globalisierung erfinden sich Orte neu. Über hohe Mieten und ausgefranste Stadtränder, touristische Erholungsgebiete und inszenierte Volkskultur.

Werbung
Werbung
Werbung

Globalisierung heißt: Wir haben die Welt im Blick. Und wir haben sie bei uns, in Bildern, durch Migranten, in den Vorstädten. Die Welt ist flach geworden, und die Idee drängt sich auf, dass der Raum gleichgültig geworden sei. Seit langem wird behauptet: Wir werden zu Hause arbeiten. Im Grünen. Am Strand, aber online. Hinaus aus den Städten. Wir werden kosmopolitisch unterwegs sein. Überall zu Hause sein.

Es stimmt nur nicht. Wir leben in Wahrheit immer ganz konkret in einer bestimmbaren und benennbaren Umwelt, vor Ort, in einer Gemeinde. Die meisten fühlen sich dem verbunden, was sie Heimat nennen.

Und weltweit wachsen die Städte, nicht die grünen Lebensfantasien. Die nationalstaatliche Containerwelt mag es nicht mehr geben, aber sie wandelt sich zu einem Netz von Städten mit ziemlich leeren Zwischenräumen. Global sind es die Mega-Städte, mit jeweils vielen Millionen Einwohnern. Verglichen mit ihnen ist ganz Österreich Peripherie. Wien spielt noch ein bisschen mit, alles andere ist im Grunde "ländlicher Raum".

Am Land besteht "Kippgefahr"

Auch in Österreich wachsen aber die Landeshauptstadtregionen, alles andere ist Abwanderungsgebiet. Auch Immigration fließt wesentlich in die größeren Städte. 30 bis 50 Prozent der großstädtischen Infrastruktur wird in den nächsten Jahrzehnten neu gebaut werden, entweder durch Wucherung oder durch die Neuerfindung der Stadt. Wenn alles zum Zentrum drängelt, wird sich ein verstärktes Preisgefälle ergeben. Außerhalb der urbanen Zonen bleibt der touristische Raum, betreut von ein paar residualen Nichtpendlern. Dort mag das Leben eine höhere Qualität aufweisen, aber die relevanten Jobs sind in den Städten, ebenso das moderne Flair und die weiterführende Bildung; und mit einem weiteren Anstieg des Bildungsniveaus, zumindest in Zertifikaten gemessen, sinkt der qualifikationsadäquate Jobanteil außerhalb der Städte.

Die räumliche Neuordnung in den Regionen drückt sich in den aktuellen Konflikten über Schulen, Bezirksgerichte, Krankenhäuser und Postämter aus. Für die kleinen Städte und großen Dörfer besteht "Kippgefahr". Freilich sind die Städte nicht unbedingt die automatischen Gewinner: Bei etwas größeren Städten zeichnet sich die übliche Suburbanisierung ab, die in den amerikanischen Kommunen bereits zur Vernichtung der Stadtkerne geführt hat, und es wogt überall der Kampf zwischen den Stadtzentren und den Einkaufszentren am Stadtrand. Auch innerhalb der Städte gibt es eine Heterogenisierung - nicht zuletzt durch Immigration bilden sich deutlicher die "besseren" und die "schlechteren" Stadtteile heraus. Der Einfluss der Politik bei der Steuerung dieses Wandels ist ziemlich begrenzt.

Auch in den Regionen, im ländlichen Raum, ist mittlerweile die ganze Welt zu Hause. Wir haben nichts gegen italienische und chinesische Lokale, gegen Irish Pubs und Mexican Food. Es gibt regionale und lokale Praktiken, die fortbestehen, aber manche kulturellen Elemente beginnen zu "wandern" - plötzlich wird das amerikanische Halloween auch in Europa zu einem Begriff. Es gibt überall dieselbe "Oberflächenkultur", die aus internationalen Filmen, globaler Musik, amerikanischen Hamburgers und Miss World-Veranstaltungen besteht - und draußen am Land ist man oft "modernistischer" als in der Stadt.

Das Heimatliche wird exotisch

Ebenso gibt es Gegenbewegungen, die jedoch am Haupttrend nicht viel ändern. Denn auch die eigene "Volkskultur", die (besonders von der Babyboomer-Generation) noch als veraltet, primitiv und provinziell betrachtet wurde, wird im Konzert vieler Kulturen wieder akzeptabel. Das Heimatliche wird plötzlich wieder mit Unbefangenheit, ja Zuneigung wahrgenommen, gerade deshalb, weil es für die Kids und deren Kids beinahe schon genauso exotisch geworden ist wie Praktiken fremder Kulturen.

Früher hat es Städte und Regionen ganz einfach gegeben; neuerdings müssen sie sich vermarkten: eine Marke werden, besondere Attraktionen bieten. Urbane und regionale Identitäten müssen inszeniert werden, die Orte müssen ihre Außergewöhnlichkeit verkaufen. Das Besonderheits-Bewusstsein muss in möglichst viele Köpfe befördert werden: ein Marketing-Wettbewerb, die Durchsetzung des eigenen Branding, zum Wohl der Gast- und Dienstleistungsbetriebe, aber auch zur Rechtfertigung kommunaler Politik. Das geht nicht immer ohne Kitsch ab. Doch praktisch geschieht das Gegenteil: Die immergleichen Fußgängerzonen mit den üblichen Geschäften, zwischen Benetton und Prada und Starbucks. Jedenfalls gibt es ein hartes touristisches Wettrüsten, einen Überbietungswettbewerb an Authentizität, von der oft nur der Mythos bleibt.

Man kann Identität, Geschichtlichkeit und Authentizität auch erfinden - so wie es seinerzeit die Nationalstaaten als "imaginierte Gemeinschaften" getan haben. Vorzeige-Events sind professionalisierte Volksveranstaltungen, Festivals, Ausstellungen. Nahrungsmittelspezialitäten im handwerklich-bäuerlichen Kontext, urig und naturnah: Heumilch und Kuhfladen, die Käseproduktion in der Scheune, die Alm und das Dorf - obwohl die Kuh in ihrem ganzen Leben nicht einmal aus der Ferne eine Alm gesehen hat. Die Sehnsucht nach Natur und Gesundheit wird immer stärker zum Verkaufsargument - und dabei wird natürlich auch kräftig geschummelt.

Städte brauchen Selbstdarstellung

Vor allem verschärft sich das Dilemma, dass im Zuge der Professionalisierung letzten Endes für einen ertragreichen Massenmarkt alle dasselbe anbieten wollen, aber im Zuge der Einmaligkeits- und Originalitätsbestrebungen alle ganz verschieden sein wollen. Die Stadtgalerien machen deshalb allesamt klassische Moderne. Denn auch die größeren Städte brauchen ihre theatralischen Selbstdarstellungen, die Suggestion der angeblichen "Leichtigkeit des Seins", umso mehr, als ihr künftiges Wachstum die konkreten Lebensbedingungen in Zukunft nicht unbedingt verbessern wird.

Doch allenfalls klotzt man ein Museum oder eine Konzerthalle hin, gebaut von internationalen Architekten in internationalem Stil - zwar nicht authentisch, aber postpostmodern. Denn man ist alles zugleich, für ganz unterschiedliche Touristengruppen.

Man mag die inszenierte Heimat- und Volkskultur in ihrer Beziehung zur Spätmoderne als Nischenkultur betrachten: in einer Multioptions- und Entertainmentgesellschaft eine hübsche Arabeske, die man auch mitnimmt, sympathisch, aber nicht weiter wichtig. Man mag sie aber auch als Indiz der Kompensation für Schwächen und Versagungen der Spätmoderne ansehen; als Gegengewicht gegen die Tretmühle einer sinnlos dahinrasenden Gesellschaft und als Korrektur für jenen Schund, der die Mitte des Marktes beherrscht; als Fluchtpunkt, der hilft, die große Maschinerie einer modernen Welt auszuhalten.

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Karl-Franzens-Universität Graz.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung