Achtung, evolutionärer Beipackzettel!

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"Eltern, die die Entwicklung ihrer Babys fördern wollen, sollten sie umarmen, statt sie hirnverbrannten digitalen Intelligenz-Förderprogrammen aussetzen."

Verständlich, dass Menschen als die Wesen mit den leistungsfähigsten Gehirnen der Stammesgeschichte in ihre Intelligenz verliebt sind. Fast zwangsläufig resultiert daraus die Überschätzung des "reinen Geistes". Dies geht oft mit einer Abwertung jenes sozialen Beiwerks einher, in dessen Zusammenhang Intelligenz und Sprache ursprünglich entstanden sind. Für den Menschen ist seine Intelligenz arttypisch: Komplett wird sie erst durch den typisch menschlichen Rahmen aus Empathie, Emotionen und sozialen Kompetenzen.

Es ist auch heute noch schwierig, die "reine Intelligenz" auf jene Bedeutung zurückzuführen, die ihr im menschlichen Leben zusteht. Waren doch die letzten 3000 Jahre Entwicklung von Philosophie und (Buch-)Religionen von "Vergeistigung" geprägt, von einer angemaßten "Emanzipation" von Tier und Natur. Diese Selbstüberhöhung des Menschen vom Natur- zum Geisteswesen fand ihren Höhepunkt in der Aufklärung, als manche ihrer Philosophen sogar einen vom Körper unabhängigen Geist ausriefen. Aber es gab auch andere, etwa Michel de Montaigne. Der ist heute wieder sehr aktuell, angesichts eines sich in den Vordergrund drängenden Weltbilds vom Menschen als Teil der Natur.

Erfolg und IQ

Der Philosoph Peter Strasser meint, dass menschliche Intelligenz eine typische Kulturleistung sei, die über den Intelligenz-Quotienten hinausgehe (vgl. FURCHE Nr. 9/2018). Ja, schon; aber diese Kulturleistung ist gerahmt von biopsychologischen Bedingungen. Wieder einmal erweist sich die Unterscheidung zwischen Kultur und Natur als irreführende Polarisierung. Bereits Arnold Gehlen - der aus heutiger Sicht auch viel Problematisches von sich gab - meinte, der Mensch sei von Natur aus ein Kulturwesen. Damit traf er zeitlos ins Schwarze, obwohl er noch gar nichts über die Interaktionen zwischen Verhalten und Gehirn wissen konnte.

Von den Nischen der Gedankenschmieden abgesehen, stellten sich intellektuelle Spitzenleistungen für ein gelingendes Leben als nicht besonders wichtig heraus. So bestätigt heute die Wissenschaft, was vernünftige Menschen ohnehin schon lange wussten: Es braucht ausgeglichene Emotionalität für ein langes und gesundes Leben. Spitzenintelligenz und die von der Konsumgesellschaft genährte Zwangsneurose der Jagd nach permanentem Glück spielen dabei keine Rolle. Im Gegenteil: Intelligenz, die ihre soziale Einbettung ignoriert, kann dem Weg zu Glück und Erfolg sogar entgegenstehen.

Denn wenn es um die nebenwirkungsarme Verträglichkeit von Intelligenz geht, dann empfiehlt ihr evolutionärer Beipackzettel die soziale Integration. Tatsächlich versagt der IQ, den individuellen Erfolg in Schule, Beruf und Gesellschaft vorherzusagen. Kann es sein, dass im Hausverstand geerdetes Mittelmaß einfacher sozial integrierbar ist als jene Luxusausführungen, welche gelegentlich sogar mit Aspergerschen Eigenschaften einhergehen? "Strahle-Intelligenz" fasziniert, bereitet aber den Mitmenschen oft Angst und dem Träger selbst Schwierigkeiten. Sozial integrierte Intelligenz ist Faustregel, wenngleich keine Garantie für Erfolg.

Um die Jahrtausendwende prägten Akira Miyake und Kollegen von der Universität Colorado den Begriff der "Exekutiven Funktionen". Sie meinten damit jene geistigen Funktionen, mit denen Menschen und Tiere ihr eigenes Verhalten unter Berücksichtigung der Umweltbedingungen steuern und optimieren. Dazu zählen etwa die Impulskontrolle, ein gutes Arbeitsgedächtnis, situationsangepasste Flexibilität sowie die Fähigkeit, strategisch zu handeln und die Folgen abschätzen zu können. Die Exekutiven Funktionen machen uns sozial-und kooperationsfähig. Als wichtigstes Substrat für diese Funktionen erwies sich das Stirnhirn, mit dem wir auch unsere Konzepte bilden und diese ständig affektiv bewerten. So ist das Stirnhirn letztlich das Zentrum für alle unsere Entscheidungen. Damit beurteilen wir auch, was wir anderen zumuten können und was nicht: Es ist also der Sitz unseres basalen Gewissens und der Moral.

Intelligenz und Irrationalität

Wenn aber alle Menschen und andere Säugetiere mit dem Stirnhirn von der Evolution ein biologisches Substrat für Exekutive Funktionen und Moral mit auf ihren Weg bekamen -sind diese dann "angeboren"? Natürlich nicht! Der Zellpudding des Stirnhirns kommt vielmehr mit Lernbereitschaften und verlangt bestimmte soziale Bedingungen für seine optimale funktionelle Entwicklung. Kein Wunder, denn das große menschliche Gehirn samt seiner Intelligenzfähigkeit entstand im Rahmen eines komplexen Sozialleben. Daher ist die menschliche Intelligenz nicht unbedingt der Antagonist zur Irrationalität, sondern vielmehr Substrat und Verbündete. Zumindest der "Homo oeconomicus" sollte darauf angelegt sein, seine Spiele zu gewinnen. Doch weit gefehlt! Das Verhalten selbst der wirtschaftstreibenden Form des Menschengeschlechts weicht oft weit von den Vorhersagen der Spieltheorie ab. Dies brachte "experimentellen Wirtschaftswissenschaftlern" serienweise Nobelpreise ein. Menschen sind zwar grundlegend auf ihren Vorteil bedacht, aber sie wollen auch "fair" behandelt werden. Und sind selbst dann rachsüchtig und auf Bestrafen von Kooperationsverweigerern bedacht, wenn damit hohe Kosten verbunden sind. Sie zeigen eine irrationale Beziehung zum Risiko, schließen sich gerne der Meinung anderer an, auch wenn es sich dabei um blanken Unsinn handelt, etc.

Gut entwickelte Exekutive Funktionen fallen nicht vom Himmel. Dazu benötigen Kinder zuerst eine zuverlässige und sensitive Frühbetreuung durch ihre Eltern oder andere hingebungsvolle Personen. In dadurch entstehenden "sicheren Bindungsmustern" wird soziales Grundvertrauen und eine forschende Neugierde grundgelegt. Die Hirnforscherin Adele Diamond summierte jene Bedingungen, die es zudem für eine optimale Entwicklung der Exekutiven Funktionen braucht. Dazu zählt vor allem körperliche Bewegung, am besten verbunden mit sozialen Zusammenhängen. Günstig wirkt sich auch ein Aufwachsen in Kontakt mit Tieren und Natur aus.

Kontraproduktiv dagegen sind ein bewegungsarmes Aufwachsen in einer rein artifiziellen Umgebung, womöglich mit Bildschirmzeit im Übermaß. Und Eltern, welche die emotionale und geistige Entwicklung ihrer Babys fördern wollen, sollten sie umarmen, anstatt sie frühzeitig hirnverbrannten digitalen Intelligenz-Förderprogrammen aussetzen, die bestenfalls nutzlos bleiben.

"Ermächtigung" des Stirnhirns

Die Qualität der Exekutiven Funktionen ist also von der "Ermächtigung" des Stirnhirns in Kindheit und Jugend abhängig. Dies ist unsere einzige Chance, jenes von Peter Strasser so trefflich formulierte Ziel zu erreichen: "Wir müssen darauf bedacht sein, dass die Eliten der Zukunft Intelligenz mit Klugheit und Mitgefühl vereinen. Dazu bedarf es eines Wahlvolks, das sich nicht für dumm verkaufen lässt." Während manche Pädagogen immer noch im Dunklen zu tappen scheinen, wie das zu bewerkstelligen sei, wissen jene, die sich mit den biologisch-evolutionären Universalien der menschlichen Psyche beschäftigen, dass eine optimale Entwicklung der Exekutiven Funktionen bestimmte Voraussetzungen benötigt.

Die gute Nachricht ist also, dass für eine Sozialisierung der Intelligenz nach menschlichem Maß die Frühbetreuung, Kindergarten und Schule immens wirksam sein können. Als Faustregel kann gelten: Je jünger die Kinder, desto mehr Augenmerk benötigen sie. Die schlechte Nachricht: Das erfordert geistig-konzeptuellen und auch finanziellen Aufwand, um etwa überforderte Eltern zu unterstützen, die Betreuung in Krippen und Kindergärten zu optimieren, und unseren Volksschulen endlich zu ermöglichen, allen Kindern lesen, schreiben und rechnen beizubringen. Und ihre Exekutiven Funktionen in einem Ausmaß zu fördern, dass sie in Schule, Beruf und Leben Fuß fassen können.

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