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Allergisch durch übertriebene Hygiene?

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Luftverschmutzung galt bislang als Verursacher von Allergien. Forschungsergebnisse lassen ' ernsthaft daran zweifeln. Nun stehen übertriebene Hygiene und moderner Lebensstil im Verdacht.

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Luftverschmutzung galt bislang als Verursacher von Allergien. Forschungsergebnisse lassen ' ernsthaft daran zweifeln. Nun stehen übertriebene Hygiene und moderner Lebensstil im Verdacht.

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Luftverschmutzung macht nicht automatisch allergisch. Diese Erkenntnis stützt sich auf unerwartete Ergebnisse von wissenschaftlichen Studien an großen Bevölkerungsgruppen. Insbesondere wurde die unterschiedliche Reaktion der genetisch praktisch identen Bevölkerung von Ost- und Westdeutschland verglichen.

So hatten unter 8.700 Schulkindern nur 2,7 Prozent der „Ossis” einen Heuschnupfen, aber beachtliche 8,6 Prozent der Münchner. Das Ergebnis verblüfft umso mehr, als die erfaßten Ost-Sprosse in den traditionellen Dreckluft-Städten Halle und Leipzig lebten.

Auch bei der mittels objektiven Hauttests überprüften Sensibilisierung, einer Art schlummernden Allergie, lagen die Wessis zweieinhalb-bis dreimal über den Werten der Ost-Bürger. ,

„Eigentlich sind wir ausgezogen, das Gegenteil zu beweisen”, beschreibt die Münchner Allergologin Erika von Mutius das Staunen über die niedrigen Werte im Osten. Auch Hamburg, wo fast jeder vierte zwischen 20 und 44 Jahren unter Heuschnupfen leidet, kann von den niedrigen Baten derselben Altersgruppe im ostdeutschen Erfurt nur träumen: Nur 13,3 Prozent rinnt dort die Nase wegen einer Allergie.

Die Erkenntnisse überraschen, schien doch Luftverschmutzung als Allergieauslöser ausgemacht. Dafür sprach einiges. „Bäume, die unter Streß, etwa an stark befahrenen Straßen, wachsen”, referiert der Leiter des österreichischen Pollen warn -dienstes, der Biologe Siegfried Jäger, japanische und eigene Studien, „produzieren mehr Allergene”. Derzeit untersucht Jäger, ob die Veränderung der Pollen mit der Erwärmung der Erdatmosphäre in Zusammenhang steht.

Doch auch in Österreich deuten Indizien darauf hin, daß die Entwicklung der Luftverunreinigung und jene der Allergie-Fälle nicht korrelieren. So freut sich der amtliche Umweltkontrollbericht 1996 über „eine leicht abnehmende Luftbelastung durch Emissionen”. Trotz dieser - zumindest offiziellen - Abnahme explodieren aber die Allergiezahlen.

Litt im Wintersemester 1982/83 gerade jeder vierte allergische Medizinstudent an der Uni Wien an den schweren Erscheinungsformen Asthma bronchiale und Reizhusten, klagte im Vorjahr bereits jeder zweite darüber. Auch in den Allergieambulatorien der Wiener Gebietskrankenkasse drängen sich immer mehr Patienten: ein Plus von zehn Prozent in nur einem Jahr.

Resümiert Manfred Götz, Pulmo-loge am Wiener Wilhelminenspital: „Die Luftschadstoffe sind wahrscheinlich überhaupt nicht das Wichtigste.” Fest steht, daß bekannte Vertreter wie Schwefeldioxid oder Stick-oxide - im Gegensatz zu Gräserpollen etwa - an sich keine allergischen Reaktionen provozieren.

Die einschlägige Forschung kennt dagegen 20.000 richtige Allergene. Sie finden sich sogar in Alltäglichem wie Brotmehl, Tierhaaren und Blütenpollen. Hautkontakt, etwa bei Kosmetika oder Nickel-Schmuck, kann die Immunabwehr ebenso irritieren wie Einatmen oder Essen der fraglichen Stoffe.

Die Folgen sind bekannt: Nasen rinnen, Lungen rasseln, und die Haut rötet sich. In Extremfällen kann ein anaphylaktischer Schock sogar lebensgefährlich werden, wenn nämlich die überschießende Immunreaktion den Körper kollabieren läßt.

Bei den biochemischen Mechanismen im Immunsystem, die einer allergischen Reaktion zugrunde liegen, setzt eine nun untersuchte Erklärung für die Ost-West-Differenzen an. Der „ Schmuddelkinder” -Theorie zufolge war das Immunsystem der Sprößlinge im deutschen Osten mit angestammten Tätigkeiten beschäftigt -* Abwehr von Parasiten, Würmern, Erregern und Bewohnern von Dreck aller Art -, während diese natürlichen Feinde im Westen durch einen sterileren Lebensstil von den Kleinen ferngehalten wurden. Im Osten fanden selbst Einzelkinder - wegen des weitverbreiteten Kinderkrippen- und Kindergartenbesuchs - jede Menge Beschäftigung für ihr Immunsystem vor. Dem stand in wärmetechnisch gut isolierten, sozusagen umweltschonenden Westhaushalten oft eine von Ansteckungen abgeschottete Kindheit nebst unterbeschäftigtem Immunsystem gegenüber.

Die nun angenommene, drastische Folge: Die körpereigene Gesundheitspolizei begann sich auf neue, harmlose Gegner wie Eiweißverbindungen aus Pollen oder Tierspeichel einzuschießen, als diese den Organismus bedrohten.

Eine einmal aus dem Gleichgewicht gebrachte Immunabwehr wird vom westlichen Lebensstil laufend mit neuen Pseudo-Angreifern versorgt. Während im europäischen

Osten über Jahrzehnte selbst Bananen etwas Exotisches darstellten, kamen diesseits der Mauer stets neue Speisen und Inhaltsstoffe dazu.

„Wir reisen mehr”, beschreibt Thomas Frischer, Kinderarzt am Wiener AKH, die Zunahme an Allergenen, „wir essen Obst aus Mexiko und tragen Kleider aus Südkorea”. Tatsächlich rangiert die hierzulande nicht eben heimische Olive bei der Wiener Bevölkerung bereits auf Platz sieben der Sensibilisierungsskala. Jeder zwölfte ist latent auf die Ölfrucht allergisch.

„In den letzten Jahren”, deutet auch Werner Aberer, Hautspezialist in Graz, Lebensstil als Allergiefaktor an, „holt die männliche Jugend bei Nickelallergien auf, weil sie sich einbildet, sich auch die Ohren stechen zu lassen.”

So wenig bezweifelt wird, daß Allergie eine Zivilisationskrankheit darstellt, so wenig ist die Theorie von der übertriebenen Hygiene im Westen als Allergie-Grundlage bewiesen. Denn Kritikern erscheint der Ansatz zu mechanistisch. Vor allem die Rolle des verantwortlich gemachten Abwehrstoffs Immunglobulin E (IgE) im Blut sei nur ansatzweise erforscht, wird argumentiert.

Persilschein für Luftverpestung wollen auch die Anhänger der neuen Theorie jedenfalls keinen ausstellen, sind doch die schädlichen Wirkungen von Tabakrauch und diversen Schadstoffen aus Auspuffen und Schloten für das Atemsystem längst erwiesen. Gerät die Immunabwehr, wie beschrieben, aus dem Gleichgewicht, werden die Schadstoffe zu Wegbereitern der Allergene, machen sie doch die Barriere Schleimhaut porös. Die Folge: Allergene haben noch leichter Zutritt zum Immunsystem.

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