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An den Grenzen unserer Welt

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Die Teilchenphysik erforscht die Bausteine der Materie. Sie dringt dabei bis an die Grenzen der menschlichen Erkenntnis vor.

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Die Teilchenphysik erforscht die Bausteine der Materie. Sie dringt dabei bis an die Grenzen der menschlichen Erkenntnis vor.

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Woraus besteht die Welt? Welche sind die elementaren Bausteine der Materie? Was hält diese Bausteine zusammen? Schon die Philosophen im Alten Griechenland grübelten über diese grundsätzlichen Fragen; die Antworten, die sie daraufgaben, blieben freilich rein spekulativ. Heutzutage ist es die Elementarteil -chenphysik, die sich mit diesen grundsätzlichen Fragen der Naturwissenschaft beschäftigt. Im Wechselspiel von theoretischen Überlegungen und Experimenten konnte sie gerade in jüngerer Zeit beachtliche Er-, folge erzielen. Verschiedene Elementarteilchen, deren Existenz schon vor langem von der Theorie postuliert worden waren, konnten in den letzten Jahren experimentell nachgewiesen werden; zuletzt das Top-Quark im Jahre 1994.

Was in kleinen Labors mit selbstgebastelten Geräten begann, hat sich zu einem aufwendigen und kostspieligen Unternehmen entwickelt: Im derzeit größten Teilchenbeschleuniger der Welt LEP - am internationalen Forschungszentrum CERN in der Schweiz - werden Teilchen in einem 100 Meter unter der Erde gelegenen ringförmigen Kanal von 27 Kilometern Länge beschleunigt und dann unter hoher Geschwindigkeit auf ein -andergeschossen. Die dabei frei werdenden exotischen Teilchen werden von Apparaturen erfaßt und gemessen, die so hoch wie ein dreistöckiges Haus sind. Das gesamte Forschungszentrum verbraucht ebensoviel Strom wie die benachbarte Stadt Genf. Auch die theoretischen Grundlagen haben sich in Sphären jenseits der allgemeinen Verständlichkeit verabschiedet: Als der Innsbrucker l'eilchenphysiker Anton Zeilinger im Februar vom Klub der Bildungsund Wissenschaftsjournalisten zum „Wissenschaftler des Jahres” gekürt wurde, mußte er seine Laudatio selbst halten - keiner der Journalisten wollte es riskieren, sich in der komplizierten Materie zu verheddern.

Trotzdem gelingt es der Teilchen-physik im Bahmen des Standard-Modells ein einheitliches Bild der Verhältnisse im Mikrokosmos zu zeichnen (siehe auch Seite 14):

Demnach besteht die gesamte Materie des Universums aus zwei Arten fundamentaler, nicht weiter zerlegbarer Teilchen, die über keine experimentell erkennbare räumliche Ausdehnung verfügen:

■ die Quarks, die Bausteine etwa des Protons und des Neutrons;

■ die Leptonen, zu denan unter anderem das Elektron und das Photon gehören.

Alle in der Natur beobachteten Kräfte lassen sich auf vier fundamentale Wechselwirkungen zurückführen:

■ die Gravitation (altertümlich: Schwerkraft), der ohne Ausnahme jedes Teilchen ausgesetzt ist;

■ die elektromagnetische Wechselwirkung, der alle elektrisch geladenen Teilchen unterliegen;

■ die starke Wechselwirkung, die für den Zusammenhalt der Quarks etwa in Protonen und Neutronen und für die Bindung der Protonen und Neutronen im Atomkern verantwortlich ist;

■ die schwache Wechselwirkung, die für die Kernfusion im Inneren von Sternen und für eine bestimmte Art des radioaktiven Zerfalls verantwortlich ist.

Die Teilchenphysik beschreibt nicht nur auf faszinierend stimmige Art und Weise den Aufbau der materiellen Welt: Sie weist auch klar und deutlich 'auf Grenzen der menschlichen Erkenntnis hin - Grenzen, die nicht rein praktischer, sondern prinzipieller Natur sind. Diese Grenzen liegen nämlich in der Grundlage der Teilchenphysik, der Quantenmechanik - einer Theorie, deren Grundstein von großen Forschern wie dem Dänen Niels Bohr (1885 bis 1962), dem Deutschen Werner Heisenberg (1901 bis 1976) und dem Österreicher Erwin Schrödinger (1887 bis 1961) in den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts gelegt wurde.

■ So ist es in der Quantenmechanik nicht möglich, zugleich Ort und Geschwindigkeit eines Teilchens genau zu bestimmen. Teilchen erscheinen dem Physiker prinzipiell wie die Buchstaben auf den Seiten eines Buches einem Weitsichtigen: verschwommen.Seinen Ausdruck findet dies in der Heisenbergschen Unschär-ferelation.

■ Seit 1926, der legendären Kopenhagener Deutung der Quantenphysik, wird unter Teilchenphysikern (mit philosophischer Ader) diskutiert, ob ihre Experimente nicht Realität schaffen, statt Realität zu beschreiben. Aus der Kopenhagener Deutung läßt sich nämlich schließen, daß es von der Art des Experiments abhängt, wie sich der Mikrokosmos dem Physiker zeigt. Damit hängt auch die Frage zusammen, wie real manche der beobachteten und vorausgesagten Teilchen sind. Das ominöse Higgs-Boson, dem die Physiker derzeit nachjagen, ist zum Beispiel für manche nur ein mathematisches Konstrukt (siöhe Seite 14).

Das Fazit: In letzter Konsequenz scheint sich die Welt der menschlichen Erkenntnis zu entziehen. Möglicherweise gerät sogar der Grundsatz der unabhängig vom Beobachter existierenden Außenwelt ins Wanken.

Nicht nur die philosophischen Dimensionen, auch der praktische Nutzen der Teilchenphysik ist beträchtlich: Die Entdeckung des Elektrons führte letztlich zur Erfindung des Transistors und des Mikrochips, die die Computertechnik revolutionierten. Dank der Teilchenphysilk haben Chemiker gelernt, neue Substanzen und Arzneimittel künstlich herzustellen. Auch die Positron-Emissions-Tomographie, ein medizinisches Verfahren, das detaillierte Aufnahmen des menschlichen Gehirns erlaubt, ist ein Kind der Teilchenphysik.

Sogar die Kunstgeschichte kann von der Teilchenphysik profitieren: Wenn alte Ölbilder mit Teilchen bestrahlt werden, können übermalte Namenszüge oder sogar ganze Gemälde zutage gefördert werden: Unter van Dycks „Die heilige Bosalia erbittet das Ende der Pest in Palermo”, das im Metropolitan-Museum in New York hängt, kam auf diese Weise ein Selbstporträt des Künstlers zum Vorschein, das er, wohl aus Geldmangel, übermalt hatte.

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