"Auf einmal sollst Du was erfinden"

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Was tun Menschen, die plötzlich keine Arbeit mehr haben? Betroffene erzählen über ihre mühevollen Versuche, nicht auf der Strecke zu bleiben.

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Was tun Menschen, die plötzlich keine Arbeit mehr haben? Betroffene erzählen über ihre mühevollen Versuche, nicht auf der Strecke zu bleiben.

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Zwei Tage hatte ich mir freigenommen," erzählt Elli Goldberg*, "um meiner Tochter ein Kleid für ihre neue Arbeit zu nähen." Am dritten kam der Brief vom Chef, mit der Frage, ob sie sich nicht schämte, für sein Geld daheim am Balkon zu sitzen. "Nein", schrieb sie zurück - es war der erste Krankenstand seit Jahren - und fragte ihrerseits schriftlich an, ob er sich nicht schämte, in einem Haus zu sitzen, "das wir für Sie erarbeiten?"

Schon damals - 1987 - waren 45 Jahre ein hohes Alter für jemanden, der gekündigt wird. Und schon damals "war die Stimmung garstig": in den siebziger Jahren, als der Sohn klein gewesen und sie vorübergehend stempeln gegangen war. Aber, "da haben die Leute noch mitempfunden", erinnert sie sich, "wenn du keine Arbeit gefunden hast."

Nun ist Sommer 1998 und Elli Goldberg fährt mit dem Rad die 20 Kilometer von Wien-Floridsdorf zum Freudenauer Hafen. Die Selbsthilfegruppe für Langzeitarbeitslose, der Verein "Zum Alten Eisen?", gibt eine Pressekonferenz. Zwei Schiffe aus der k&k Zeit sind aus Rumänien angekommen, der Verein wird sie restaurieren. Goldberg ist zwar nicht mehr arbeitslos, aber neugierig, und die Furche fährt mit und erfährt, was Menschen so alles passieren kann, die gekündigt werden.

"Was? Schon 45?!"

Goldbergs Schlüsselerlebnis nach der Kündigung waren ihre schwarzen Haare. "Ausländer nehmen wir nicht", sagte ein Personalchef, noch ehe sie in ihrem leichten Floridsdorfer Akzent grüßen konnte. Oder: "Sie sind heute schon die Dritte!" Oder: "Ihr kommt Euch ja nur vorstellen, weil es das Arbeitsamt so will". Daß sie eine gute Schneiderin ist, wußte sie. Daß ihre Kenntnisse auch mit dem Alter zu tun haben sollten, war ihr neu: "Was? Schon 45?!"

Der Kündigungsgrund - das Kleid für ihr Mädchen - wurde der Beginn eines neuen Lebensabschnitts: Aus der Kollegin ihrer Tochter, die auch etwas genäht haben wollte, wurde ein ganzer Kundenstock. Und "da hat etwas in mir stattgefunden," sagt Frau Goldberg, "denn du wirst in einer Schneiderei meist nicht sehr gut behandelt." Mit der leeren Spule in der Hand um neue Nähseide bitten zu müssen stärkt nicht gerade das Selbstbewußtsein. Und gerade in dieser Branche wird Anpassung an den Betrieb der Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit vorgezogen.

Elli Goldberg hatte plötzlich Geld, Anerkennung und Zeit. Bald konnte sie sich selbst versichern, das sei sie sich selber schuldig gewesen, sagt sie.

Sie bleibt heute noch etwas länger auf dem rostigen Schiff im Freudenauer Hafen, um sich umzuhören. Seit kurzem ist sie Bezirksrätin in Floridsdorf und will wissen, wie es den Arbeitslosen eigentlich geht.

Die 32jährige Erna Winkler* zum Beispiel ist seit Ende 1996 ohne Arbeit. Nach der Babypause war sie nicht mehr in ihren gelernten Beruf, Zahnarztassistentin, eingestiegen. Aber mit 7.000 Schilling - damals - war als alleinstehende Mutter wirklich nicht gut auszukommen. Sie hat im Gastgewerbe begonnen und "leichtsinnigerweise selbst gekündigt". Nachtschicht und Kind sind schwer vereinbar. Heute ist sie in einer der Selbsthilfegruppen. Seit dem Kurs, sagt sie, sei sie wieder voll motiviert und stürze sich mit Begeisterung auf jede Stellenausschreibung.

Auch der 41jährige Schlosser Walter Schmidt* hat selbst gekündigt, weil ihm nicht viel anderes übrig geblieben ist: Die Firma, ein Personalverleihungsunternehmen, vertröstete ihn mit dem Lohn.

Sein Vermieter aber ließ sich nicht vertrösten. Die Wohnung, ein kleines Zimmer, Bad und Küche, kostet fast 6.000 Schillinge. Im Kühlschrank langweilt sich eine halbleere Senftube neben der vollgefüllten Wasserflasche. Das ist alles an Genießbarem, außer einem Sack Tabak, "zum Selberwuzzeln, das ist billiger".

Um Überleben zu können, setzt er sich in eine Fußgängerzone und porträtiert Passanten.

Bei Gertrude Göbel* hat es "mit Tuscheln der Kolleginnen im Nebenzimmer" begonnen. Nach der Kündigung und einer zweijährigen Arbeitslosigkeit hatte sie wieder einen Job gefunden, und "war im siebten Himmel".

Alles habe sie getan für die Arbeit, sogar ihren eigenen Laptop mitgebracht. Das Verrechnungssystem und die komplizierte Bonierung von Speisen und Getränken in ein übersichtliches EDV-System geordnet. Irgendwann hat die Nichte der Besitzerfamilie die Schule abgebrochen und Frau Göbel wurde aufgetragen, "dem Mädel einstweilen Bürokenntnisse beizubringen". Das hat sie so gründlich gemacht, daß - per Post - plötzlich der Brief kam. Beginnend mit "Leider (...) kein Bedarf mehr" und endend mit "weiterhin viel Erfolg". Auch die 50jährige Frau Göbel ist nun in einer Selbsthilfegruppe. Viel Chancen auf Arbeit, sagt sie, erhoffe sie sich nicht. "Bei dem Alter!"

Nach dem Gespräch auf dem Schiff, erzählt Elli Goldberg einige Tage später, sei sie noch ins Parlament geradelt. Bei der Fahrt dorthin habe sie nachgedacht. Sie kenne jetzt so viele Arbeitslosen-Initiativen, die meist von politischen, karitativen oder gar gewinnstrebenden Kräften ins Leben gerufen werden. Und sie frage sich, was eigentlich mit den Menschen passiert ist? Wieso schaffen die es ohne treibende Kraft nicht mehr? Dann habe sie sich gedacht, wie so ein Leben verläuft: Kindergarten, Schule, lernen sich anzupassen, um am Arbeitsmarkt unterzukommen. 20, 30 Jahre arbeiten und "auf einmal hast du keine Arbeit mehr. Und auf einmal solltest du selbst etwas erfinden."

"Aber jeder Mensch", meint Elli Goldberg, "trägt Wünsche in sich, was sein Leben betrifft". Die Kündigung könnte eine Chance sein, diese zu entdecken, wenn man die entsprechenden Möglichkeiten für die Betroffenen schafft, um in Ruhe und Würde zu überlegen. Oft würde es schon reichen, nicht "wie der letzte Dreck behandelt zu werden".

* Namen von der Redaktion geändert

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