Auf Leser warten ist zu wenig

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Ein Gespräch mit Johanna Rachinger, Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek.

Die Furche: Die Österreichische Nationalbibliothek ist die größte Bibliothek des Landes und hat alle Bücher, die hier erschienen sind. Was ist darüber hinaus ihr Spezifikum?

Johanna Rachinger: Ich glaube, dass die Nationalbibliothek ein identitätsstiftendes Symbol Österreichs und seiner Geschichte ist. Man muss sich die Bibliothek als eine multimediale und multikulturelle Institution vorstellen, wo Papyri, Handschriften, Musiknoten, Plakate, Exlibris, Fotos, Porträts usw. gesammelt sind. Sie ist ein Ort des kulturellen Gedächtnisses. Wir erleben immer wieder, dass in Ländern, wo Krieg geführt wird, die Nationalbibliotheken zerstört werden, und das Erste, was man in Friedenszeiten wieder aufbaut, sind eben die Nationalbibliotheken, weil ein kulturelles Gedächtnis für eine Gesellschaft sehr wichtig ist. Das schafft Geborgenheit, Zugehörigkeit, Orientierung. Ich glaube, dass es auch diese Ritualisierung braucht, um dieses Gedächtnis auch zu spüren. Das ist bei den Museen dasselbe. Es ist ein Unterschied, ob ich einen Picasso in Original sehe oder über das Netz.

Die Furche: Ist das Buch heute noch das Herzstück der Bibliothek?

Rachinger: Das Buch ist das Herzstück, aber genauso diese Kostbarkeiten in den einzelnen Sammlungen: die Nachlässe, die speziellen Handschriften, Notendrucke usw. Wir haben ca. 6,5 Millionen Bücher und andere Objekte. Das gedruckte Buch nimmt ungefähr drei Millionen ein, und wir haben jährlich einen Zuwachs rein nur an Druckschriften von ca. 50.000 Exemplaren, Tendenz steigend, und sehr stark im Zuwachs sind die Hochschulschriften - also die Dissertationen, wir sammeln auch alle Diplomarbeiten und seit neuestem auch die Abschlussarbeiten der Fachhochschulen.

Die Furche: Wie lange wird das alles noch Platz finden hier?

Rachinger: Wir haben den Tiefspeicher in vier Etagen unter dem Burggarten 1992 eröffnet und sind nach jetzigen Berechnungen 2010 voll. Wir müssen jetzt schon überlegungen, wo wir den neuen Tiefspeicher bauen. Ich persönlich wäre sehr für den Heldenplatz, das wäre ein guter Platz für Bücher, er ist noch nicht unterkellert.

Die Furche: Sind die Benutzer der Nationalbibliothek hauptsächlich Wissenschaftler oder auch ganz normale Leserinnen und Leser?

Rachinger: Wir haben jährlich ca. 250.000 Leser und Leserinnen vor Ort. Etwa zwei Drittel sind Studenten und Wissenschaftler. Wir haben auch sehr viele Menschen aus recherchierenden Berufen - Autoren, Journalisten natürlich -, aber durchaus auch Menschen, die kommen, um irgendeine Alltagsgeschichte zu erforschen, alte Zeitungen zu lesen oder eine Chronik über ihren Ort.

Die Furche: Die Nationalbibliothek steht ja auch im Kontext der Bibliothekslandschaft Wiens. Ist sie da ein eigenes Königreich oder spielt sie mit in diesem Ensemble?

Rachinger: Wir sind sicher kein eigenes Königreich, sondern für Bibliotheken ist es heute sehr wichtig zu kooperieren. Es gibt das Bibliotheken-Verbundssystem Aleph, in das gemeinsam hineinkatalogisiert wird. In Ausbildungsfragen arbeiten wir eng mit den Universitätsbibliotheken zusammen - es gibt eine gemeinsame bibliothekarische Ausbildung, und das ist sehr wichtig, auch in Hinblick auf die Vernetzung von Bibliotheken.

Die Furche: Die Nationalbibliothek ist die einzige große öffentliche Bibliothek mit Vollrechtsfähigkeit. Wie wirkt sich das aus?

Rachinger: Vollrechtsfähigkeit bedeutet, dass wir keine nachgeordnete Dienststelle des Ministeriums mehr sind, dass wir auch nicht mehr kameralistisch verwaltet werden, sondern mit 1. Jänner 2002 in die Selbständigkeit entlassen wurden. Das heißt, dass wir wesentlich flexibler in der Handhabung unseres Budgets sind. Wir bekommen ein gedeckeltes Budget, das für die nächsten fünf Jahre gleich ist. Früher konnte man überhaupt nicht in die Zukunft planen, was für Bibliotheken fatal ist. Wir stehen ja vor riesigen Herausforderungen, gerade durch die neuen Technologien, durch die Informationsrevolution, und da muss man einfach langfristig planen können. Darüber hinaus haben wir jetzt auch die Möglichkeit, selbst dazuzuverdienen, ohne dass uns das vom gedeckelten Budget gekürzt wird. Dazu haben wir in der Nationalbibliothek durchaus Möglichkeiten. Zum einen haben wir wunderschöne Räumlichkeiten, die wir seit der Vollrechtsfähigkeit auch sehr aktiv vermieten. Das zweite ist, dass wir teilweise unsere Inhalte lizenzieren können. Ein Beispiel ist unser Bildarchiv, wo wir die Bilder ins Netz gestellt haben und so kommerziellen Interessenten die Möglichkeiten geben, diese Inhalte zu lizenzieren. Eine dritte Möglichkeit ist, dass die Nationalbibliothek ja sehr häufig für Museen Leihgaben zur Verfügung stellt, und dafür verlangen wir auch Geld. Und ein ganz wesentlicher Teil ist natürlich das Sponsoring. Zusammenfassend kann man sagen, dass sich die Vollrechtsfähigkeit für die Nationalbibliothek sehr positiv ausgewirkt hat. Wir haben heute wesentlich schnellere Entscheidungswege, wir sind flexibler und können Dinge auch viel rascher umsetzen.

Die Furche: Die Ausgliederung der Kulturinstitutionen vom Staat ist ja ein Trend. Oft entsteht dadurch ein Zwang zum Geldverdienen, man muss das machen, was lukrativ ist, und kann daher manches andere nicht mehr machen. Sind Sie auch damit konfrontiert?

Rachinger: Es ist natürlich so, dass man auch ein bisschen auf die Quote schauen muss. Aber ich glaube, man muss prinzipiell zu diesen Ausgliederungen sagen: Das kann nicht bedeuten, dass sich der Staat aus seiner Verantwortung für die einzelnen Institutionen entlassen kann. Eine Nationalbibliothek wird nie allein lebensfähig sein. Wir haben einen Deckungsgrad von ca. sieben Prozent, den wir im letzten Jahr - dem ersten Jahr der Vollrechtsfähigkeit - um fünf Prozent steigern konnten. Aber es wird über eine bestimmte prozentuelle Deckung nicht hinausgehen. Der Staat muss nach wie vor in die Verpflichtung genommen werden. Aber ich finde es auch nicht ehrenrührig, wenn sich die einzelnen Institutionen überlegen, wie sie auch zusätzlich Einnahmen erzielen können.

Die Furche: Was sind die wichtigsten Pläne für die nächsten fünf Jahre?

Rachinger: Für uns geht es darum, diesen Brückenschlag von der traditionellen Bibliothek hin zu den Herausforderungen der modernen Informationsgesellschaft zu schaffen. Eine große Herausforderung in den nächsten Jahren ist, dass wir uns vorgenommen haben, bis 2005 sämtliche Bestandskataloge der Nationalbibliothek, auch die der Sondersammlungen, über das Netz zugänglich zu machen. Das zweite ist der große Bereich der Objektdigitalisierung. Zum einen sind wir gezwungen, jene Objekte zu digitalisieren, die aufgrund ihrer Beschädigungen nicht mehr in die Entlehnung gehen sollen, z. B. Zeitungen der Jahrhundertwende, die auf sehr schlechtem Papier gedruckt wurden und uns zwischen den Fingern zerfallen. Diese Zeitungen müssen jetzt - da haben wir ein Projekt gestartet - konserviert werden und werden dann aber nicht mehr in die Entlehnung gehen, sondern sie werden parallel dazu digitalisiert, und dann wäre die Nationalbibliothek weltweit die erste Bibliothek, die auch historische Zeitungen über das Netz zugänglich macht. Das starten wir in diesem Jahr. Auf der anderen Seite wollen wir auch das digitalisieren, was sehr viel entlehnt wird. Das ist eine Arbeit für Generationen, aber wir setzen jetzt den ersten Schritt. Und das dritte Thema, wo wir auch hoffen, dass wir bis Ende des Jahres eine Lösung gefunden haben, ist die Langzeitarchivierung. Die Datenmengen, die da auf uns zukommen, müssen auch langfristig gespeichert werden können.

Die Furche: Es gibt auch viele Veranstaltungen und Ausstellungen. Offenbar genügt heute nicht mehr, zu konservieren und zu warten, dass die Leser kommen.

Rachinger: Das genügt sicher nicht mehr. Im Bereich der modernen Bibliothek müssen wir kunden- und serviceorientiert sein. Und es ist es ja auch Bildungsauftrag einer Nationalbibliothek, jene Schätze, die sie hat, einem breiteren Publikum in Form von Ausstellungen zur Verfügung zu stellen. Wir haben allein in diesem Jahr fünf Ausstellungen.

Die Furche: Man diskutiert jetzt anhand der Albertina: Verträgt Wien das alles oder verdrängt man sich gegenseitig? Sehen Sie da Gefahren?

Rachinger: Nein. Im Moment kann man, glaube ich, nur Synergien sehen. Es sind so viele Touristen da, und ich denke, dass gerade diese Museumslandschaft, die in den letzten Jahren sehr gewachsen ist, noch mehr Publikum aus aller Welt anzieht. Ich glaube nicht, dass man sich da gegenseitig konkurrenzieren wird, sondern dass das insgesamt belebend wirkt.

Das Gespräch führte Cornelius Hell

Dr. Johanna Rachinger, geb. 1960, Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik an der Universität Wien, nach Tätigkeiten im Verlags- und Bibliothekswesen 1992-95 Programmleiterin und 1995-2001 Geschäftsführerin des Verlages Carl Ueberreuter, seit Juni 2001 Generaldirektorin der ÖNB.

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