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Ausgesetzt oder erstickt

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Zwei Kinder wollte der heute 36jährige Arjun M. haben, zwei Mädchen. Das sei schon immer sein Wunsch gewesen, sagt der in Neu Delhi lebende Jurist. Sein Wunsch ist in Erfüllung gegangen, die beiden Töchter sind mittlerweile acht und sechs Jahre alt und besuchen eine teure Privatschule in der indischen Hauptstadt. Ihren Berufsollen sich die beiden später einmal frei wählen können, so wie auch seine Frau Nandita, ebenfalls eine Juristin, von ihren Eltern keine Hindernisse in den Weg gelegt bekommen hat.

Damit gehören die Mädchen und ihre Mutter zu jener privilegierten Gruppe indischer Frauen, die weitgehend die gleichen Möglichkeiten wie die Männer haben. Und die vor allem mit dem guten Gefühl leben können, daß sie erwünscht waren.

Für die Mehrheit der Inderinnen aber „beginnt der Überlebenskampf” weiterhin „im Mutterleib”, wie es eine Frauenorganisation im südlichen Bundesstaat Tamil Nadu einmal auf einem ihrer Plakate ausdrückte. Die Gruppe kämpfte für ein gesetzliches Verbot sowie die Bestrafung von Geschlechtstests bei Föten.

Ein derartiges Gesetz wurde im Sommer vergangenen Jahres vom Parlament in Neu Delhi verabschiedet. Es verbietet Ärzten, einer schwangeren Frau oder deren Verwandten „durch Worte, Zeichen oder jegliche weitere Geste” das Geschlecht des Kindes mitzuteilen. Es verbietet auch Werbung für derartige Tests. Das Strafausmaß für Ärzte, die diesem Gesetz zuwiderhandeln, beträgt bis zu drei Jahren Haft. Damit soll einer Praxis Einhalt geboten werden, die jährlich zur Abtreibung von Zehntausenden weiblichen Föten führt.

„Doch wer soll so ein Gesetz durchsetzen, das in so eklatantem Widerspruch zu den Gesellschaftsnormen steht?” fragt Bitu Menon, Mitbegründerin eines feministischen Frauenverlages in Delhi.

Im Bundesstaat Maharashtra gibt es bereits seit 1988 ein ähnliches Gesetz. Doch es ist ohne Wirkung geblieben, sagt die Feministin Madhu Kishwar, Herausgeberin der Zeitschrift Manushi.

„Mögest du die Mutter von einhundert Söhnen sein”, lautet ein alter Sanskrit-Segen für jungvermählte Frauen. Die religiösen Texte im Hinduismus verherrlichen die Geburt eines Sohnes, und die Seele eines Verstorbenen kann nach diesen Glaubensgrundsätzen nur dann Ruhe finden, wenn der Sohn bei der Verbrennungszeremonie den Scheiterhaufen entzündet.

Ein Sohn bringt der Familie Ansehen und kann zur Mehrung ihres Vermögens beitragen. Außerdem bedeutet er soziale Sicherheit für seine Eltern in einem Land, in dem die allerwenigsten in den Genuß einer staatlichen Alters vorsorge kommen.

Eine Tochter dagegen bedeutet eine Investition in jene andere Familie, in die sie später heiratet. Sie ist wegen der - zwar seit 1961 gesetzlich verbotenen, dadurch aber um nichts weniger geübten Praxis der Mitgift -eine finanzielle Belastung. Viele Familien verschulden sich bei der Hochzeit einer Tochter auf Generationen.

„Selten”, sagt Menon, „haben sich gesellschaftliche Vorurteile und technische Möglichkeiten so verbunden: Fruchtwasseruntersuchungen und Ultraschalltests sind heute allen Städterinnen zugänglich, und die Abtreibung ist in Indien legal. Wer soll verhindern, daß die Tests, die dazu dienen, Föten auf eventuelle Krankheiten zu untersuchen, in der Praxis zur Feststellung des Geschlechts verwendet werden? Wer könnte je einer Frau nachweisen, sie hätte nur abgetrieben, weil es ein Mädchen war?”

Die Zahl der Kliniken, die Amniozentesen und Ultraschalltests durchführen, ist in den vergangenen Jahren sprunghaft angestiegen. „Eine Kontrolle ist längst nicht mehr möglich. Noch dazu, wo viele Ärzte schon mobile Ultraschallgeräte verwenden und daher die Geschlechtstests zu Hause bei der Frau durchführen können”, sagt Kishwar.

Arme Landfrauen, die keinen Zugang zu derartigen Methoden haben, Behelfen sich weiter auf die traditionelle Art. Neugeborene Mädchen werden erstickt oder ausgesetzt. In manchen Gegenden wird ihnen mit einem schnellen Griff das Bückgrat gebrochen.

Untersuchungen von Manushi haben ergeben, daß viele Ärzte - und nicht nur sie - die Geschlechtstests und auch die Abtreibung weiblicher Föten als eine Art Geburtenkontrolle befürworten. Viele indische Familien, lautet das Argument, würden so lange Kinder bekommen, bis sie die gewünschte Anzahl von Söhnen haben. Sehr häufig aber bedeutet das, daß sie auch mehrere - unerwünschte -Töchter bekommen. Mit jeder weiteren Geburt einer Tochter aber ist eine Frau potentiell der „Rache”, also physischer und psychischer Gewalt durch den Mann ausgesetzt. Die Mädchen werden ihrerseits von Anfang an schlechter behandelt als die Knaben.

Wie sich diese Bevorzugung von Söhnen demographisch auswirkt, wird die nächste Volkszählung im Jahr 2001 zeigen. Im Jahre 1901 kamen noch 972 Frauen auf 1.000 Männer, 1991 waren es nur noch 929. „Es gab”, so Kishwar, „also ein Defizit von 30 Millionen Frauen in der Gesamtbevölkerung.” Die These, daß dadurch der „Wert” der indischen Frau wieder steigen würde, hält Kishwar für zynisck. Zudem werde sie durch soziologische Untersuchungen widerlegt.

Doch wenn Gesetze wirkungslos bleiben, wie ist dem Problem dann beizukommen? Eine einfache und vor allem eine schnelle Lösung gibt es nicht, sind sich indische Feministinnen einig, zumal gerade die Modernisierung der Gesellschaft das Problem zunächst nur verschärft hat. Der Weg kann nur über Aufklärungskampa-gnen führen, wie sie Frauengruppen seit den frühen achtziger Jahren veranstalten, und über den Kampf um die soziale, rechtliche und wirtschaftliche Gleichstellung der Frau.

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