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Bajonette und Raketen

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Der Abbau der bewaffneten Kräfte der Sowjetunion um 1,2 Millionen Mann hat vielfache, nicht nur außenpolitische, sondern auch rein militärische, und vor allem innenpolitische Aspekte, die für den im Umbau begriffenen Sowjetstaat charakteristisch sind. Nach der Entlassung von 1,2 Millionen Mann werden die bewaffneten Kräfte der Sowjetunion noch 2,423 Millionen Mann zählen. Diese Zahl ist in doppelter Hinsicht interessant. Zunächst einmal sahen die seit 1952 oft wiederholten sowjetischen Vorschläge für eine Rüstungsbeschränkung als Höchstgrenze für die beiden Weltmächte, der Sowjetunion und der USA, je 2,5 Millionen Mann vor. Die Sowjets können also propagandistisch geltend machen, daß sie freiwillig und ohne internationale Garantien heute diesen Vorschlag verwirklicht haben. Sodann erinnert man sich daran, daß schon zur Zarenzeit die russische Armee und Flotte, 1913, im tiefsten Frieden, bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 160 Millionen, rund 1,9 Millionen Mann unter den Waffen gehalten hat. Heute hat die Sowjetunion 208 Millionen Einwohner. Sie kann also darauf hinweisen, daß der heutige Bestand ihrer Armee in demselben Verhältnis zur Bevölkerungszahl steht wie zur Zarenzeit. *

Doch das alles ist nur propagandistische Sophistik. Die heutigen Verhältnisse und die heutigen Waffen sind von ganz anderer Natur als zur Zeit der Zaren und selbst zur Zeit des Jahres 1950, als das erste Mal der Vorschlag gemacht wurde, die Armeen der beiden größten Weltmächte auf je 2,5 Millionen zu beschränken. Der seit damals erzielte Erfolg im Ausbau der Atomwaffen und der Raketentechnik hat die militärischen Verhältnisse grundlegend geändert.

Maßgebend für den vollzogenen Abbau der sowjetischen Mannschaftsbestände sind in erster Linie natürlich militärische Erwägungen und die strategische Konzeption des roten Generalstabs gewesen. Die militärischen Erwägungen sind einfach: Die Anhäufung von Atomwaffen und der sowjetische Vorsprung im Raketenbau sichern die Sowjetunion weitgehend vor einem Überraschungsangriff, der sich katastrophal auswirken müßte. Ein solcher Angriff würde nur mittels Atomwaffen erfolgen und würde entsprechend mit gleichen Waffen erwidert werden. Beim russischen Vorsprung der Raketentechnik ist darum ein solcher Überraschungsvorsprurig unwahrscheinlich.

Auch die strategische Konzeption der sowjetischen Armeeführung hat sich im Verlauf der letzten Jahre geändert. Darnach steht für die Sowjetunion Europa kaum mehr als Kriegsschauplatz in Frage. Sollte trotzdem einmal den russischen Strategen ein europäischer Kriegsschauplatz aufgedrängt werden, dann wäre es eben nur ein Nebenkriegsschauplatz. Die Entscheidung in einem etwaigen dritten Weltkrieg fällt nach der Meinung der militärischen Sowjettheoretiker entweder auf dem amerikanischen Kontinent oder in der Sowjetunion selbst. Im Ernstfalle will man daher den Angriff sofort in die Vereinigten Staaten Amerikas tragen. Dazu braucht man in der ersten Kampfetappe nur die Flugwaffe und Raketen. Das Bodenheer muß also nur genügend stark sein, um einen etwaigen Angriff an der europäischen Grenze abzuwehren.

Wie zur Zarenzeit und später ist auch heute die Mobilmachung der Sowjetarmee ein Problem der Zeit. So dauerte noch im zweiten Weltkrieg die volle Mobilmachung der sowjetischen Streitkräfte gute zwei Jahre. Es ist nun interessant festzustellen, daß gleichzeitig mit dem angekündigten Abbau der Mannschaftsbestände gleichzeitig auch eine Umorganisation der Armee nach Gesichtspunkten einer territorialen Ergänzung erfolgen soll. Das würde im Notfall natürlich eine Mobilmachung nicht wenig beschleunigen. Auch kann die Sowjetregierung 1,2 Millionen Männer im besten arbeitsfähigen Alter für die Verwirklichung ihrer Wirtschaftsziele gut gebrauchen.

Neben den propagandistischen und wirtschaftlichen Beweggründen darf ein weiterer Gesichtspunkt, der bei angekündigten Heeresreduktionen ebenfalls maßgebend ist,. nicht übersehen wer-■ den. Es liegt durchaus in der Generallinie, nach welcher ein ganz bestimmter Umbau des gesamten Sowjetstaates durchgeführt werden und bis in sechs oder zehn Jahren ein ganz anderes Bild vom roten Rußland darbieten soll. Eine Reihe von Maßnahmen in dieser Richtung sind bereits getroffen worden. Dazu gehören gewisse Reformen in der Industrie und im Bildungswesen, wodurch der formale Föderalismus betont werden soll. Der Sowjetstaat soll fortschreitend dezentralisiert werden. Die Bundesrepubliken sollen eine stärkere Eigenständigkeit erhalten. Gleichzeitig sollen dadurch breite Volksschichten vermehrt zu einer scheinbaren Mitwirkung bei der Verwaltung und bei der Leitung der Wirtschaft herangezogen werden. Die letzte diesbezügliche Maßnahme ist die Auflösung des Innenministeriums in der Sowjetregierung, wodurch die Ordnungs- und Kriminalpolizei, das Feuerwehrwesen und die Standesämter der Kompetenz der einzelnen Bundesländer übertragen wurden. Jetzt muß, soweit dies möglich ist, auch das Wehrwesen in dieses Gesamtbild eingefügt werden.

Chruschtschow hat bei der Ankündigung der neuen Truppenreduktion zugegeben, daß noch vor wenigen Jahren, etwa zur Zeit der Berliner Krise, die Sowjets beinahe sechs Millionen Mann unter den Waffen hatten. Seither hatte wiederholt der Kreml einen Abbau seiner Streitkräfte groß verkündet. Doch jedesmal sind die aufgelösten Divisionen, obwohl die Zahl von etwa zwei Millionen Soldaten stimmt, nicht spurlos verschwunden. Sie blieben als sogenannte Rahmendivisionen mit Kaders, Territorialdivisionen genannt, die schneller als die Divisionen des stehenden Heeres mobilisierbar sind, weil sie mitten in ihrem Rekrutierungsbezirk garniso-nieren.

Alle russischen revolutionären Parteien, vor allem die Sozialisten und unter ihnen wieder am lautesten die Bolschewiken, verlangten ebenso wie ihre Gesinnungsgenossen in ganz Europa die Auflösung der stehenden Heere und ihre Ersetzung durch die Miliztruppen, also ein Volk in Waffen. Als Vorbild einer solchen demokratischen Volksarmee wurde das schweizerische Milizheer hingestellt. Als 1922 der Bürgerkrieg bendet war und man zur Organisation des Wehrwesens und der Wehrpflicht ging, war eine Milizarmee immer noch das für die Zukunft anzustrebende Ideal. Doch mit der Begründung, daß die Sowjetunion allseits von Feinden umringt sei, wies man auf die Notwendigkeit eines starken stehenden Heeres hin. In dieser Periode, etwa bis in die Mitte der zwanziger Jahre, bestand die Rote Armee aus zwei Teilen: ein Teil der Wehrpflichtigen wurde zum mehrjährigen Militärdienst ausgehoben und diente in den Divisionen des stehenden Heeres. Daneben gab es Territorialdivisionen. Diese hatten ständige Kader, doch einen wechselnden Bestand an Mannschaften und Subalternoffizieren. Die Dienstpflicht in ihnen dauerte nur einige Monate. Diese Territorialdivisionen sollten später einmal die endgültige Milizarmee bilden. Die Rekrutierung für die Territorialdivisionen erfolgte auch nach territorialem Prinzip. Entsprechend herrschte die eigene Kommandosprache, welche dem Idiom der die Divisionen stellenden Bevölkerung entsprach. Selbst eigene Offiziersschulen besaßen diese territorialen Wehrbezirke.

Die spätere Entwicklung — der zweite Weltkrieg förderte sie — ging jedoch in entgegen-gesetzter*Richtung. Das Milizsystem wurde aufgegeben. Die Territorialdivisionen verschwanden. Die Dauer der Wehrpflicht von zwei bis fünf Jahren, je nach Waffengattung, wurde für alle obligatorisch. Die Kommando- und Dienstsprache wurde einheitlich russisch, und die nationalen Formationen verschwanden. Wie nun die ganze Armee die Traditionen des zaristischen Heeres, seiner Siege und den Ruhm seiner Feldherren pflegte, bis schließlich im Weltkrieg die alten Uniformen wieder eingeführt wurden,so war diese Armee auch in ihrer inneren Struktur der alten gleich.

Heute wird eine neue Entwicklung eingeleitet. Es wird zwar auch jetzt erklärt, daß auch in Zukunft die große Sowjetunion ein starkes und jederzeit einsatzbereites stehendes Heer brauche, doch gleichzeitig wird schon heute ein Milizheer in diese Armee eingebaut. Ebenso wie bei den früheren Mannschaftsverringerungen die demobilisierten Divisionen nicht spurlos verschwanden, sondern als Rahmen- oder Territorialdivisionen weiterexistierten, ebenso wird wohl auch beim jetzigen Abbau dasselbe geschehen. Darum kann sich die Sowjetunion bei der heutigen gesamtstrategischen Lage diesen Abbau ohne weiteres leisten, und zwar nicht nur wegen der größeren Feuerkraft der sowjetischen Einheiten. Denn die aufgelösten Divisionen lassen sich heute rascher als früher wieder mobilisieren, während das stehende Heer stark genug bleibt, um bis zur vollen Mobilmachung die europäischen Grenzen zu schützen. Daher wird durch den Abbau von 1,2 Millionen Mann die militärische Kraft der Sowjetunion keineswegs verringert, eher noch gestärkt. Trotzdem darf der Zweck der sowjetischen Amieereform nicht bloß in der propagandistischen Auswertung gesehen werden. Ebensosehr dient die Umstellung der Annäherung an das Milizsystem sowie dem gesamten Umbau des Sowjetstaates.

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