Thomas Metzinger - © Foto: JGU Pressestelle

Thomas Metzinger: "Bitte endlich aufwachen!"

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Der deutsche Philosoph Thomas Metzinger über luzide Träume, Bewusstseinsethik und Grundlagenforschung im Angesicht der globalen Krise.

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Der deutsche Philosoph Thomas Metzinger über luzide Träume, Bewusstseinsethik und Grundlagenforschung im Angesicht der globalen Krise.

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Als Thomas Metzinger vor 20 Jahren Gründungsmitglied einer wissenschaftlichen Gesellschaft zur Erforschung des Bewusstseins (ASSC) wurde, galt die Beschäftigung mit diesem Thema noch als eher exotisch, wenn nicht karriereschädigend. Heute sehen renommierte Wissenschafter in der Bewusstseinsforschung eine der größten Chancen für ein besseres Verständnis von uns selbst, die es je gab. Metzinger arbeitet an einer naturwissenschaftlich fundierten Philosophie des Geistes und ist u. a. einer der Forschungsleiter im EU-geförderten VERE-Projekt, das die geistige Verbindung von Menschen mit Robotern und Avataren untersucht, um Anwendungen für immobile Patienten weiterzuentwickeln.

Die Furche: Herr Professor Metzinger, wozu dient die moderne Traumforschung und warum sind Träume für Philosophen so interessant?

Thomas Metzinger: Erstmal sind Träume die wichtigste globale Zustandsklasse, die man mit dem Wachbewusstsein vergleichen kann, etwa hinsichtlich der Aufmerksamkeitskontrolle oder der Gedächtnisleistung. Man kann zum Beispiel auch den "Traumkörper“ mit dem subjektiv erlebten Körper im Wachbewusstsein vergleichen. Und da sieht man, dass sich physische Körperwahrnehmungen im Traumkörper manchmal indirekt wiederfinden - der wirkliche und der virtuelle Körper sind also nicht ganz getrennt. Aber grob vereinfacht lässt sich sagen, dass Träumen sozusagen ein "OffIine-Bewusstsein“ und der Wachzustand ein "Online-Bewusstsein“ ist.

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Die Furche: Aber es gibt doch auch die REM-Schlafverhaltensstörung, bei der Träume motorisch ausagiert werden - und die tief gehende philosophische Frage, was Traum- und Wachzustand denn nun wirklich unterscheidet?

Metzinger: Viele der besten neuen Theorien darüber, wie das Gehirn funktioniert, sagen uns ganz klar, dass das Wachbewusstsein eine Form des "Online-Träumens“ ist. Das heißt: Im Wachbewusstsein sind es eben auch nur Modelle der Wirklichkeit, die wir erleben, die stark durch unsere Erwartungen und Vorannahmen im Hinblick auf die jeweils nächsten Erfahrungen geformt werden. Im Traum kann man sehen, was passiert, wenn man dem Pferd völlig die Zügel schießen lässt, also wenn unser Erleben nicht mehr durch Fehlermeldungen von der "äußeren Wirklichkeit“ und das aktive körperliche Handeln gezügelt wird. Der Traum bietet somit auch die Möglichkeit, unseren Vorannahmen im Wachzustand auf die Spur zu kommen.

Die Furche: Sie haben sich auch eingehend mit dem Phänomen des luziden Träumens beschäftigt. Wie lässt sich die Erfahrung des Klartraums an der Schnittstelle von Hirnforschung und Philosophie erklären?

Metzinger: Luzide Träume treten zum Beispiel bei jungen Menschen zwischen sechs und 14 Jahren mit erhöhter Häufigkeit auf, ab dem 16. Lebensjahr sinkt die Häufigkeit wieder ab. Das ist eine Phase, in der die Hirnreifung noch nicht abgeschlossen ist. Die größere Wahrscheinlichkeit des Klartraums in manchen Lebensphasen könnte also damit zu tun haben, welche Entwicklung das Gehirn gerade durchläuft. Eine andere Frage ist, welche Art der Einsicht während des Klartraums überhaupt entsteht: Der luzide Träumer hat ein autobiografisches Gedächtnis, und er kann seine Aufmerksamkeit kontrollieren. All das kann der normale Träumer nicht, der ein bisschen einem desorientierten psychiatrischen Patienten gleicht. Wenn ihn ein Arzt fragen würde: "Wissen Sie, wer Sie sind, wo Sie sind, und welcher Tag heute ist?“, wüsste er keine Antwort. Im luziden Traum hingegen wird diese Orientierung wiederhergestellt. Interessant ist auch, dass eine besonders gute Fähigkeit zum abstrakten Denken das Luzidewerden begünstigt - und dass das Aufwachen aus einem Tagtraum möglicherweise ein sehr ähnlicher Vorgang ist.

Die Furche: Das heißt, beim Klartraum werden Verbindungen im Gehirn aktiviert, die während des normalen Träumens gleichsam auf Eis gelegt sind?

Metzinger: Man geht davon aus, dass der Stirnlappen des Gehirns wieder ins Spiel kommt. Mittlerweile wurden nicht nur gewisse Hirnregionen mit dem luziden Träumen in Relation gebracht, Klarträume konnten auch bereits gezielt durch elektrische Hirnstimulation ausgelöst werden. Da ist die Bewusstseinsforschung also rasch vorangekommen. Würden Sie künftig gerne eine elektrische "Schlafkappe“ aufsetzen, um bei Ihnen selbst luzide Träume anzuschalten? Das wäre in nicht allzu ferner Zukunft vielleicht sogar einmal denkbar. Ob das freilich gut wäre oder nur zu Verwirrung und geistigen Erkrankungen führen würde, weiß heute natürlich noch niemand. Schon jetzt gibt es Gehirn-Computer-Schnittstellen, mit denen sich Twitter-Nachrichten aus dem Gehirn heraus, allein durch das Denken, verschicken lassen. Und in Experimenten werden Avatare und auch Roboter bereits nur durch Bewegungsvorstellungen im Gehirn gesteuert. Gerade in Österreich gibt es hierzu technologische Spitzenforschung. Solche Beispiele zeigen: Wissenschaft führt zu Technologie, und Bewusstseinsforschung führt eben irgendwann zu Bewusstseinstechnologien. Wir werden in der Lage sein, unser bewusstes Erleben künftig weitaus feiner zu regulieren als heute. Deshalb brauchen wir auch eine Bewusstseinsethik.

Die Furche: Während Träume eher als Nebenprodukt der biologischen Evolution angesehen werden, haben sie in der Kultur seit jeher einen riesigen Stellenwert. Man denke an die Propheten und Traumdeuter in der Antike oder an die in der Moderne so wirkmächtige Psychoanalyse. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz zwischen kulturzeller und biologischer Evolution?

Metzinger: Das Träumen könnte biologisch mit Funktionen wie der Wärmeregulation und der Konsolidierung des Langzeitgedächtnisses im Schlaf zu tun haben. Es ist tatsächlich interessant, wie die Erfahrung des Träumens dann zu kulturellen Konsequenzen geführt hat: etwa dass die Menschen angefangen haben, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden; dass die Idee aufgekommen ist, es könnte unsichtbare Welten geben; oder dass manche Menschen als Seher galten, weil sie besondere Träume hatten. Und man wusste auch schon früher um große wissenschaftliche Entdeckungen, die träumend gemacht wurden. Der Traum ist außerdem eine Projektionsfläche für metaphysische Wünsche und Hoffnungen. Er ist so chaotisch wie ein hochdimensionaler Tintenfleck auf dem Papier, in den man alles Mögliche hinein interpretieren kann. Vertreter von Religionen sahen darin die Dämonen, die Astralebene oder einen "Wahrtraum“, für Sigmund Freud und seine Nachfolger war es der "Königsweg zum Unbewussten“.

Die Furche: Der US-amerikanische Traumforscher Allan Hobson sieht Träume heute sogar als Weg zu einer neuen Theorie des Bewusstseins. Gibt es eine Vision für Sie, wie und in welchen Bereichen die moderne Bewusstseinsforschung dann auch gesellschaftlich umgesetzt werden kann?

Metzinger: Was unsere Gesellschaft im Zeitalter der neuen Medien und der allumfassenden Beschleunigung am dringendsten braucht: Dass man jedem Kind nicht nur zeigt, wie man sich duscht und die Zähne putzt, sondern auch einen Werkzeugkasten in die Hand gibt, mit dem es systematisch seine eigene geistige Autonomie erhöhen kann. Am effektivsten wäre es wohl, zwei bis drei klassische Meditationsformen wie etwa Vipassana, sowie ein bis zwei Entspannungstechniken wie Yoga oder autogenes Training flächendeckend in den Schulen zu vermitteln - und zwar völlig ideologiefrei, ganz ohne Gurus, Kerzen und Räucherstäbchen. Das wäre wohl die nachhaltigste Art, um unseren zivilisatorischen Standard zu erhöhen. Österreich und Deutschland sind im Vergleich zu den meisten Ländern der Welt relativ wohlhabend. Deshalb sollten wir die Gunst der Stunde nutzen - wer weiß, wie lange es uns noch so gut geht -, einmal ernsthaft zu überlegen, wie wir auch unseren geistigen Standard erhöhen können. Denn wir kommen als Gesellschaft nicht darum herum, uns ganz ernsthaft zu fragen, was denn nun ein guter Bewusstseinszustand ist und wie wir leben wollen. Wir müssen uns überlegen, was wir eigentlich von der Hirnforschung wollen.

Die Furche: Sie meinen also, man sollte die Hirnforschung an konkrete Interessen anbinden?

Metzinger: Zum Beispiel könnte man sagen: Das mit Abstand größte Problem der Menschheit ist heute der Klimawandel. Es ist jetzt schon klar, dass unsere Regierungen nicht handeln werden, weil sie im Würgegriff der Lobbys sind, und die allgemeine Bevölkerung verdrängt die Tatsachen und kann sich offensichtlich auch nicht aufraffen. Es sieht auch so aus, als ob die junge Generation fast vollständig ausfällt - vielleicht ist sie durch Medienkonsum ausgebrannt und apathisch geworden. Kann die Wissenschaft dabei helfen zu verstehen, welche Eigenschaften des menschlichen Geistes es eigentlich sind, die unser Handeln behindern? Man könnte die Grundlagenforschung stärker an der globalen Krise ausrichten und die Frage klären: Woran genau liegt es, dass eine Einsicht nicht handlungswirksam wird? Gibt es vielleicht entgegen allem Anschein doch noch eine Möglichkeit, uns selbst kurzfristig zu ändern? Wir haben ja absolut drängende Probleme auf dem Planeten. Es gilt zu klären, wie die Hirnforschung in der Praxis weiterhelfen kann, und dann die richtigen Bezüge herzustellen zwischen der Philosophie des Geistes, der Ethik und der politischen Philosophie.

Die Furche: Man sieht also, wie rasch man vom Thema "Traum“ zu ganz konkreten gesellschaftlichen Herausforderungen kommt ...

Metzinger: Klar, aber das hat ja auch mit einem Aufwachen zu tun (lacht).

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