Brainspotting: Der besondere Blick
Das Auge gilt als Fenster zur Seele. Brainspotting ist eine junge Therapie für Trauma und emotionale Belastung, die diese alte Weisheit zu bestätigen scheint. Bericht aus der Praxis.
Das Auge gilt als Fenster zur Seele. Brainspotting ist eine junge Therapie für Trauma und emotionale Belastung, die diese alte Weisheit zu bestätigen scheint. Bericht aus der Praxis.
Herr M. kommt zum Ersttermin in meine psychologisch-psychotherapeutische Praxis. Sein Arzt hat ihn aufgrund psychosomatischer Schlafstörungen überwiesen. Der Patient berichtet, dass ihn dies an den Rand der Verzweiflung bringt. Zuerst erkläre ich Herrn M. die Funktionen des Gehirns. Dadurch wird deutlich, wie mithilfe von Brainspotting eine emotionale Wirkung durch den körperlichen Zugang erzeugt wird. Danach erläutert der Klient seine Symptome genauer; währenddessen spürt er einen unangenehmen Druck in der Brust.
Suchen mit dem Pointer
Mit dieser Information kann die Arbeit mit dem Zeigestab (im Brainspotting „Pointer“ genannt) beginnen. Dieser wird in einer horizontalen Linie vor seinem Gesichtsfeld von einer zur anderen Seite bewegt. Der Patient verspürt an mehreren Punkten unterschiedliche körperliche oder emotionale Eindrücke. In meiner Position als Gegenüber kann ich unwillkürliche Reflexe beobachten, zum Beispiel ein Augenzwinkern, Erschrecken, entspanntes Lächeln etc. Gemeinsam wird entschieden, an dem Punkt zu verharren, an dem am meisten Reaktion spürbar war. Für Herrn M. beginnt die Herausforderung, alle Emotionen zuzulassen. Er betrachtet nun zumeist die Spitze des Pointers und berichtet, dass der Druck in der Brust und ein Gefühl der Hilflosigkeit steigt. Plötzlich erzählt er von einem Auffahrunfall mit einem lauten Kracher.
Das damit verbundene, aber nicht zuordenbare Schamgefühl führt ihn zu einem anderen Erlebnis: „Beim ‚Räuber und Gendarm‘-Spielen musste ich einmal vor meinem älteren Bruder davonlaufen. Ich rannte, als ob mein Leben davon abhinge. Dann ein strategischer Fehler: Ich bin auf einen Baum geklettert. Mein Bruder mir nach. Es gab kein Entkommen, außer einem Sprung in die Tiefe. Als ich am Boden aufkam, hörte ich noch, wie es krachte. Wie ich die Augen öffnete, starrten mich alle Nachbarsbuben und mein Bruder kreidebleich und erschrocken an. Am liebsten wäre ich für immer verschwunden.“ Von dieser Erzählung ausgehend, bearbeiten wir mehrere Situationen in seinem Leben, bei denen er ein ähnliches Schamgefühl empfand. Am Ende fühlt er tiefe Erleichterung; die körperliche Belastung ist verschwunden. Immer noch auf den Pointer fixiert, festigen wir dieses positive Gefühl mit allen Sinnen. Danach schweifen seine Blicke wieder zu mir und somit in die Realität. Nach wenigen weiteren Sitzungen schläft der Patient wieder gut und kann sich voller Energie seinem Alltagsleben widmen.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!