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Das Leben ist kein rahiger Floß

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Die Chaosforschung eröffnet faszinierende Perspektiven, die komplexen Zusammenhänge auf der Erde besser zu verstehen.

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Die Chaosforschung eröffnet faszinierende Perspektiven, die komplexen Zusammenhänge auf der Erde besser zu verstehen.

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Schon Johann Wolfgang von Goethe wußte, daß nichts so beständig ist, wie die Unbeständigkeit. Mehr als uns oft lieb ist, bestätigt die aktuelle Berichterstattung aus Zeitung, Funk und Fernsehen, daß diese Erkenntnis Hochkonjunktur hat. Schreckliche Erdbeben, ein katastrophaler Giftgasanschlag auf das U-Bahnsystem von Tokio, furchtbarer Krieg im ehemaligen Jugoslawien, Terroranschläge an vielen Schauplätzen der Welt, Radikalismus, Firmen-Konkurse, illegaler Rauschgift- und Medikamentenhandel, Familientragödien, Orientierungslosigkeit ... sind Zeiterscheinungen, für die im Alltagsgeschehen unsere Vorstellungen von „chaotisch” passen und die die Frage aufwerfen: Herrscht denn überhaupt keine „Ordnung” mehr? Gibt es nur mehr Chaos auf der Welt?

Das Chaos hat keinen Körper und kein Gesicht. Es ist eine Erscheinung, die wir meist dann zur Kenntnis nehmen, wenn sie unangenehme Folgen für uns Menschen nach sich zieht, wie Natur-, Wirtschafts-, Gesellschaftsund persönliche Katastrophen.

Seit den siebziger Jahren bewegt die Naturwissenschaften das Spannungsfeld zwischen Chaos und Ordnung; Das hat einen guten Grund. Während das natürliche Selbsterhaltungsstreben des Menschen auf Stabilität, Transparenz und Vorhersagbarkeit Wert legt, zeigt sich immer deutlicher, daß unsere Lebensbühne eher auf einem Lebensfluß schwimmt, anstatt auf einem festen Betonfundament zu stehen. Wir kennen den Lebensfluß nur begrenzt und können soweit vorausschauen, wie unser Auge reicht. Der Lebensfluß ist so breit und so mächtig, daß unsere Meß- und Navigationsinstrumente nicht immer ausreichen, um Wildwasser, Verzweigungen, Felsen und Strudel langfristig beziehungsweise rechtzeitig ausfindig zu machen.

„Das Maß ist voll!” Wenn dieser Ruf erschallt, dann ist es meistens schon zu spät. Ein kleiner Tropfen reicht, um das Faß zum Überlaufen zu bringen. Doch dieser „kleine Tropfen” hat in der Natur, Wirtschaft, Bevölkerung und Politik ganz andere Auswirkungen auf uns, als ein rand ... sind die Folge der Störung komplexer Zusammenhänge...volles Wasserglas. Der Treibhauseffekt ist ein gutes Beispiel für randvolle Gefäße. Als Ursachen für den Treibhauseffekt werden genannt: Kraftwerke, Autos, Brandrodungen in den Begenwäldern, Fluorkohlenwasserstoffe sowie Methan aus Reisfeldern und Rindermägen. Wenn der Anstieg des Schadstoffausstoßes unvermindert anhält, steigt die Temperatur um bis zu drei Grad. Diese simplen drei Grad mehr reichen aus, um Auftauen der Eismassen, Flutkatastrophen, Versteppung und Verwüstung ganzer Ökosysteme zu bewerkstelligen. In dem Moment, wo sich zum Beispiel Wassermassen über ein Land ergießen würden, wäre das Chaos perfekt. Aber was kommt dann?

300 Wissenschaftler haben bereits 1988 auf dem Klimakongreß in Hamburg ihrer Überzeugung Ausdruck verliehen, daß die Nordsee bis zum Jahre 2050 das Bild in Norddeutschland völlig verändert. Inseln sind verschwunden, Küstenregionen überschwemmt. Im Jahr 2100 ist die norddeutsche Tiefebene überflutet. Der Rheingraben bis Freiburg ist vollgelaufen. Mittelgebirge sind Inseln. Palmen wachsen bei Köln. Eine neue Ordnung ist entstanden. Deutschland — ein subtropisches Urlaubsparadies.

Wenn die Menschen das Faß der Schadstoffaufnahme weiterhin anfüllen und über den Rand dieses Fasses hinaus einfüllen, dann können wir mit plötzlich auftretenden kritischen Instabilitäten rechnen, die man auch als Chaos bezeichnet. „Das Faß ist voll” besagt, daß uns überall in unserem Leben Grenzwerte umgeben. Ist der Siedepunkt einer Flüssigkeit überschritten, dann fängt sie an zu kochen. Drohen die Eltern ihrem Kind mit „Jetzt reicht's aber”, dann steht es unmittelbar vor entsprechenden Sanktionen. Die Kettenreaktion der Kernspaltung: Neutronen werden von Atomen eingefangen, spalten diese und setzen dabei mehr Neutronen frei, die wiederum noch mehr Atome spalten. Oberhalb eines Schwellenwertes - der berühmten kritischen Masse - multipliziert sich das Ganze in Bruchteilen von Sekunden und es kommt zur Atomexplosion.

In unserem westlichen Kulturkreis ist man gewohnt, in Ursache-Wirkungsdimensionen zu denken. Seit den zirka letzten zehn Jahren macht uns aber die sogenannnte „Chaosforschung” bewußt: unsere Welt ist ein komplexes, ineinander verschachteltes System und fein geknüpftes Netz. In so einem vernetzten System lassen sich Ursache und Wirkung nicht immer voneinander unterscheiden. Die einzelnen Systemteile wirken meist direkt oder indirekt auch wieder auf sich selbst zurück. Ursache und Wirkung verschmelzen.

Den Vorgang des sich gegenseitigen Aufschaukeins nennt man positive Rückkoppelung. Positive Rück-koppelungen können auch zum Ab-schaukeln führen. So führt zum Beispiel Bewegungsarmut zur Muskelschwäche. Die Muskelschwäche ihrerseits begünstigt die Bewegungsarmut, die wiederum die Muskelschwäche verstärkt. Der Organismus geht immer rascher seinem Stillstand entgegen, der letztendlich Tod heißt. So manche Unternehmenspleite in der Computerindustrie könnte durch die Rückkoppelung von versäumten Neuentwicklungen und sinkendem Erfolg entstanden sein: Positive Rückkoppelung nach unten ist die Ursache vieler Konkurse, die alle Schlüsselbranchen unserer Wirtschaft in den letzten Jahren betroffen haben.

Baut man hier keine Bremsen ein, dann führen positive Bückkoppelungen zur Zerstörung des Systems.

Bückkoppelungen sind eine der Hauptwinden, von denen die „turbulenten Wissenschaften” getrieben werden. Damit unsere Erde nicht explodiert durch Aufschaukeln oder einfriert durch Abschaukeln, hat die Natur den positiven Bückkoppelungen einen Bremsmechanismus entgegengesetzt: die negativen Rückkoppelungen. Positiv und negativ haben in diesem Zusammenhang nicht die moralische Bedeutung von gut oder schlecht, sondern von gleich- und gegengerichtet. Ein plastisches Beispiel ist die vielzitierte Räuber-Beute-Beziehung bei Tieren.

In einem Teich leben zum Beispiel Hechte und Forellen. Die Hechte ernähren sich von den Forellen. Sind viele Forellen im Teich, können sich die Hechte prächtig vermehren. Die gierigen Baubfische gedeihen und die Anzahl der Hechte scheint nach einigen Jahren zu explodieren - natürlich auf Kosten der Forellen. Hierdurch erschöpft sich die Hauptnahrungsquelle der Hechte und sie beginnen einzugehen. Einige Jahre später vermehren sich die Forellen von neuem und beginnen den ganzen Teich zu füllen, weil die Zahl der Hechte stark abgenommen hat. Jetzt haben aber die verbliebenen Hechte genug Futter, um ihre Anzahl zu vermehren. So entsteht ein dynamisches Gleichgewicht zwischen der Zahl der Hechte und der Zahl der Forellen, die alle paar Jahre ihre höchsten und tiefsten Werte abwechselnd erreichen.

Auch die Menschen befinden sich im Gefüge komplexer Ordnungsmuster und unser Überleben hängt davon ab, inwieweit wir die äußerst großzügig gesteckten Grenzen nicht verletzen. Aus dieser Richtung weht der zweite starke Wind, der die Chaos-Wissenschaften antreibt, die Nichtli-nearität (Lesen Sie dazu Seite 14).

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