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Degradierung der Geschichte?

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Der Anlaß für diesen, mit einem Fragezeichen versehenen Artikel scheint an sich gar nicht so bedeutsam zu sein; denn es soll hier vom Entwurf des besonderen Studiengesetzes für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften ausgegangen werden. In diesem Entwurf wird eine Ausweitung der Hauptdisziplinen Volksund Betriebswirtschaftslehre und der Rechtsfächer vorgeschlagen. Die Soziologie erhält zum erstenmal eine Verankerung in der Prüfungsordnung, während die anderen Fächer (Sprachen, Technologie, Geographie) ihre Position beibehalten. Das einzige Fach, das reduziert wird, ist Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

Der zukünftige Diplomvolkswirt wind Geschichte im Gegensatz zur bisherigen Ausbildung zum Dr. rer. pol. überhaupt nicht mehr zu lernen brauchen, es sei denn, er nimmt den Gegenstand als Wahlfach. Nur bei der Ausbildung zum Diplomkaufmann behält das Fach seine Stellung bei, wenn auch etwas eingeschränkt. Beim zitierten Studiengesetz schließt man sich vielfach an die Praxis in der Bundesrepublik an, in der auch bisher Wirtschaftsgeschichte nur Wahlfach und eine Art Anhängsel der Volkswirtschaftslehre gewesen ist.

Der Geist des neuen Studiengesetzes soll aber hier nur als Symptom für die Verständnislosigkeit gezeigt werden, die der Geschichte als Wissenschaft und Lehre im allgemeinen entgegengebracht wird. Das gleiche hat sich schon bei der Erstellung der Lehrpläne auf Grund der neuen österreichischen Schulgesetze gezeigt. Hier legte man Geschichte mit einem neuen Gegenstand, Sozialkunde, zusammen. Es ist an sich schon problematisch, den Unterricht über ein Werden in der Vergangenheit (Geschichtsunterricht) mit einer Darstellung über das gegenwärtige gesellschaftliche und politische Sein (Inhalt dijr Sozialkunde) zusammen- zutegen. Ohne hier nochmals auf all . Schwierigkeiten einzugehen, die sich als Folge dieser Kombination in der praktischen Schultätigkeit ergeben werden, kann man dieses Zusammenfügen zweier verschiedener Materien nur so verstehen, daß man die Geschichte „gegenwartsnaher“ bringen will. Man will also Geschichte „aufwerten“, ein weiteres Symptom für die dargelegte Auffassung. Anderseits gibt es derzeit so viele Studenten der Geschichtswissenschaft wie noch nie zuvor. Weiters kann ein Blick in die Verlagslisten bestätigen, daß die Literatur, die sich mit historischen Themen beschäftigt, einen Umfang erreicht hat wie kaum zuvor, wobei anscheinend einige Epochen der Vergangenheit besonders bevorzugt werden, etwa die Urgeschichte, bestimmte Passagen der Antike, die Renaissancezeit und die unmittelbare Vergangenheit. Ferner ist zu beobachten: Fast jede Disziplin der Geistes- und Sozialwissenschaften hat den von ihr beanspruchten Anteil an der Geschichte so ausgebaut, daß man häufig von einer eigenen Disziplin sprechen kann: Kunstgeschichte als selbstständiger Teil der Kunstwissenschaft, Dogmengeschichte der Nationalökonomie als wesentlichen Teil der theoretischen Volkswirtschaftslehre; die einzelnen Abteilungen der Rechtsgeschichte haben sich so spezialisiert, daß sie oft untereinander kaum mehr Kontakt pflegen, so daß ein „Römisch-Rechtler“ in der deutschen Rechtsgeschichte so unbewandert sein kann wie ein Student vor dem Romanum. Schließlich entstehen Disziplinen, die zum Großteil auf Geschichte fußen; es sei nur an die neue, besonders in der Bundesrepublik Deutschland gelehrte Politische Wissenschaft gedacht, die sich vor allem in jenen Lücken einnistet, die von der Allgemeinen Geschichte zu wenig betreut wurden (Geschichte der politischen Ideen, Zeitgeschichte u. ä. m.).

Anerkannte Aufgaben der Geschichtswissenschaft

Sieht man von allem Beiwerk ab, das sich bei der Erkennung von Symptomen ständig ergibt, so lassen sich im wesentlichen drei Bereiche der Geschichte als Forschung und Lehre festlegen:

• Bildiungsaufgabe,

• Teil der Ästhetik,

• Teilgebiet für einzelne Spezialwissenschaften.

Es war das große Anliegen des Humanismus des 19. Jahrhunderts, einen Katalog jener Fächer aufzustellen, die zur Allgemeinbildung gehören. Dieser Katalog zeigt sich am deutlichsten bei den Gegenständen, die an einer höheren Schule gelehrt werden: Sprachen, Geschichte, Geographie, Naturgeschichte, Physik, Mathematik, Chemie, musische Fächer, Turnen und einigen anderen (darunter auch Religion als Fach der Allgemeinbildung!). Diese Gegenstände bilden mit geringen Verschiebungen oder unter Einbeziehung einiger neuer Aspekte den anscheinend unverrückbaren Bestandteil dessen, was man bei uns Bildung nennt.

Wir müssen von vornherein festhalten, daß eä sich um eine Aufzählung von Fächern handelt., die .erst zusammen den Bildungswert ergeben. Damit ist die wesentliche Problematik schon erkannt: Nicht eine Wertordnung ergibt die Grundlage für „Bildung“, sondern eine Summe von Ausbildungsgegenständen. Ohne hier auf die ganze Fragwürdigkeit einer solchen Wertordnung eingehen zu können (denn dieser Artikel hat einen viel begrenzteren Sinn), kann man sie doch als Ausdruck unseres bloß quantifizierenden Denkens betrachten. Eine weitere Folge ist, daß die verschiedenen Fächer austauschbar sind, wenn sich die Anschauung über das, was man gerade als Bildung begreift, wandelt. Wir erleben das heute deutlich im Zurücktreten der klassischen zugunsten der modernen Sprachen, weil man jene für den modernen Menschen als überflüssig ansieht. Wir haben die besondere Wertschätzung der Geschichte im 19. Jahrhundert (Zeitalter des Historismus) erlebt. Heute leiden wir dagegen unter dem besonderen Hochspielen einer einseitig gesehenen Geschichte, da seit dem vorigen Jahrhundert der Geschichtswissenschaft der Geruch des übersteigerten Nationalismus anhaftet; übrigens nicht ganz unberechtigt, weil sich zu viele Historiker in den Dienst einer den jeweiligen Machthabern entsprechenden Geschichtsauffassung gestellt haben.

Gerade diese Epoche hat bewirkt, daß Geschichte als Unterrichtsgegenstand suspekt geworden ist und man sie durch Sozialkunde entschärfen will.

Geschichtswissenschaft und -darstellung als ästhetische Aufgabe

Alles was oben als Zeichen der quantitativen Hochhaltung der Geschichte (hohe Studentenzahlen, riesiger Umfang an historischer Literatur) gesehen wurde, hat seine Begründung in der Ästhetisierung der Geschichtsbetrachtung.

Ästhetik gilt als Wissenschaft vom Schönen in Natur und Kunst. Innerhalb der Geschichtswissenschaft bedeutet dies eine Beschäftigung mit solchen Phasen, die einem etwas Interessantes versprechen. Dieses Interessante bedeutet, daß man das, was der Erforschung beziehungsweise Darstellung wert ist, subjektiv wertet und daß man alles andere als uninteressant • feststellt. Selbstverständlich soll jeder Forscher für seine Arbeit Schwerpunkte bilden, aber eine solche Spezialisierung kann ergeben, daß sich ein Historiker etwa nur mehr für die Antike oder für das 18. Jahrhundert zuständig fühlt und die anderen Epochen als Objekt einer ganz anderen Wis senschaft betrachtet. Er sieht die von ihm behandelte Sparte nicht mehr als Teil eines Ganzen an, sondern als ein besonders zu betrachtendes, von allen anderen Epochen unabhängiges Produkt.

Das ist in der heutigen Forschung eine durchaus selbstverständliche Einstellung, während derjenige, der die Vergangenheit als ganzes zu sehen bereit ist, als Philosoph oder als oberflächlicher Mensch gilt. Ein Verstehen des gesamten Ablaufs wird heute nur mehr vom Lehrer in der mittleren und höheren Schule verlangt, aber nicht mehr vom Professor einer Hochschule; an sich ist dies eine groteske Situation, weil die zukünftigen, Universalgeschichte vortragenden Lehrer an Höheren Lehranstalten von Spezialisten unterrichtet werden.

Am stärksten hat sich die Ästhetisierung jedoch in der Darstellung durchgesetzt. Je nach Mode werden einzelne Gebiete besonders eingehend dargestellt, was auch ein verstärktes Interesse der Forschung für solche Zeitabschnitte zur Folge hat. Diese Tendenz läßt sich sogar in den großen Sammelwerken (Historia mundi, Propyläen-Weltgeschichte usw.) feststellen, in denen nach meist nicht ganz ersichtlichen Gesichtspunkten einzelne Epochen überhaupt unter den Tisch fallen. Am stärksten bezeichnend ist jedoch die Tatsache, daß es keinen Historiker mehr gibt, der eine Weltgeschichte aus einem Guß schreibt — es sei denn, man behandelt Weltgeschichte aus einem im Wesen unhistorischen Motiv, etwa der Kulturmorphologie (Toynbee, Spengler).

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