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Den Tod einatmen..

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Es ist ein außergewöhnlich beunruhigendes Symptom unserer Zeit, daß gewisse, durch exakte wissenschaftliche Forschung bewiesene Tatsachen, die für den größten Teil aller lebenden Menschen von Bedeutung sind, so gut wie überhaupt nicht zur Kenntnis genommen werden. Auf der ganzen Erde brennt ein Problem: Überall nimmt der Lungenkrebs zu, mordet Männer und Frauen in den besten Lebensjahren, und parallel zur Zunahme dieser Krebsart steht die Zunahme des Tabakkonsums.

Vor einem halben Jahr ging in Miami, USA, ein Zivilprozeß zu Ende, an dem Millionen Menschen aller Länder regen Anteil nahmen. Ein Mann hatte nachweislich immer nur eine ganz bestimmte Zigarettensorte geraucht und war am Lungenkrebs gestorben. Die Witwe klagte nun die betreffende Fabrik auf Schadenersatz, denn der Tod ihres Mannes hätte ohne Zweifel verhindert werden können, wenn rechtzeitig eine Aufklärung über die große Gefährlichkeit starken Rauchens erfolgt wäre. Unter den zwölf Geschworenen befanden sich elf Zigarettenraucher, denen die Beantwortung von vier Fragen vorgelegt wurde: Ob der Verstorbene Lungenkrebs gehabt, ob der Lungenkrebs seinen Tod verursacht habe, ob der Lungenkrebs durch das Rauchen hervorgerufen worden sei, und daraus schließlich, ob man die Zigarettenfabrik für den Tod haftbar machen könne.

Man kann sich leicht vorstellen, daß von beiden Seiten, von der Klägerin wie auch vor allem von der beklagten Tabakkompanie mit ihrem Milliardenvermögen, eine erhebliche Zahl von Sachverständigen aufmarschierten und ihre Gutachten abgaben. Für die Zigarettenindustrie ging es in diesem Prozeß ja um Sein oder Nichtsein, denn ähnliche Prozesse liefen ja in vielen Bundesstaaten, und eine Verurteilung hätte unter Umständen eine Kettenreaktion von Schadenersatzansprüchen nach sich gezogen. Starben doch in den USA allein in den letzten fünf Jahren mehr als 200.000 Menschen an Lungenkrebs. Trotzdem bejahten die Geschworenen einstimmig die ersten drei Fragen. Für den Tod des Mannes aber wurde die Tabakkompanie nicht haftbar gemacht, denn es konnte nachgewiesen werden, daß im Jahre 1956, als die ersten Anzeichen der bösartigen Wucherung bei dem inzwischen Verstorbenen auftraten, die Gefahr des Rauchens noch nicht allgemein bekannt war. Erst in den folgenden Jahren setzte in den Vereinigten Staaten eine intensive Aufklärung ein, und Schadenersatzansprüche ähnlicher Art werden mit der Begründung zurückgewiesem daß sich wohl jedermann über die Gefährlichkeit des Rauchens im klaren sein müßte.

Von diesen und ähnlichen Prozessen berichteten in Mitteleuropa nicht die Tageszeitungen. Wohl aber brachte man einige Tage später die sensationelle Nachricht, daß ein Arzt in Oberitalien der Meinung sei, Rauchen führe nicht zum Krebs. Diese Meldung konnte man in vielen Blättern auf der ersten Seite lesen

Zahlen reden

Im Jahre 1930 kamen auf 100.000 Einwohner drei Fälle von Lungenkrebs, im Jahre 1956 bereits 31. Von

100.0 Erwachsenen erkranken in der Großstadt sieben Nichtraucher an dieser Krebsart, von mittelstarken

Rauchern 86, und bei einem Konsum von mehr als zwanzig Zigaretten pro Tag sterben von 100.000 Erwachsenen 166 an dieser fürchterlichen Krankheit. Auf dem freien Lande kommt der Lungenkrebs bei Nichtrauchern praktisch überhaupt nicht vor. Das Vorstadium des Karzinoms ist die Raucherbronchitis; sie entsteht durch die Verbrennungsprodukte des Tabaks, die durch Filter nur in ganz unbedeutenden Mengen entfernt werden können.

Es ist durch großangelegte Untersuchungen bewiesen, daß die radikale Aufgabe des Rauchens die Wahrscheinlichkeit, an Lungenkrebs zu erkranken, deutlich herabsetzt und nach zehn Jahren keine Gefahr mehr besteht. Anderseits beträgt die Latenzzeit meist mehr als drei Jahrzehnte, so daß ein Zwanzigjähriger, der mit dem Rauchen beginnt, erst mit fünfzig Jahren ernstlich Gefahr läuft, zu erkranken. Im Jahre 1931 gingen 8,6 Prozent der Todesfälle auf das Konto des Lungenkrebses, im Jahre 1958 aber bereits 18 Prozent, ln Großbritannien starben 1959 51.783 Männer an

Krebs, davon waren mehr als 3 5 Prozent Lungenkrebse. Bei den 45.533 an Krebs gestorbenen Frauen betrug der Anteil nur sechs Prozent. Denn die Frauen rauchen ja noch nicht so lange, 1925 Tauchte noch nicht einmal ein Prozent der Frauen, 1930 waren es erst vier, 1940 achtzehn Prozent. Aber 1950 rauchte bereits mehr als die Hälfte aller Frauen, und 1960 konnte man überall in der Öffentlichkeit, auf der Straße, in allen Lokalen Frauen rauchen sehen. Ihnen ist es auch zuzuschreiben, daß der Tabakkonsum jährlich um fast zehn Prozent zunimmt. 1954 betrug in Österreich die

Kopfquote 907 Zigaretten im Jahre, fünf Jahre später stieg der Konsum bereits auf 1324 Stück an. Für die Statistik des Lungenkrebses ergibt sich daraus die unabänderliche Tatsache, daß von Jahr zu Jahr mehr Frauen an Lungenkrebs erkranken werden und in etwa zwanzig Jahren dieses Übel bei Mann und Frau im gleichen Prozentsatz anzutreffen sein wird.

Solche und ähnliche, höchst nüchterne Feststellungen kann man seit Jahr und Tag in allen medizinischen Fachzeitschriften lesen.

Wer macht den Anfang?

Es ist nun ein erstaunliches Phänomen, daß all diese Zusammenhänge von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen werden wollen.

Vor einigen Wochen wurde von einem Arzt eine Befragung nahezu aller Klinikchefs durchgeführt, ob sie das Rauchen für die Entstehung des Lungenkrebses direkt verantwortlich machen. Nicht einer hat diesen Zusammenhang bestritten. Die meisten fanden es aber auch völlig unbegreiflich, daß noch immer nichts unternommen wird, um die Bevölkerung aufzuklären, und man der ständigen Ausbreitung des Tabakkonsums keinen Einhalt gebietet. Besonders deutlich und eindringlich spricht Professor Licknit von der Universität Dresden, der eine Broschüre den

200.0 Deutschen widmete, die in den nächsten Jahren in der Mitte des Lebens dem Lungenkrebs zum Opfer fallen werden, wenn sie nicht das Rauchen einstellen. Das Inhalieren von Tabakrauch ist der wesentlichste Faktor für die Entstehung des Lungenkarzinoms. Wenn man heute durch Operation einen kleinen Teil der Erkrankten retten kann, so ist die Zahl der Dauerheilungen gering und der Tod in jedem Fall langsam, grausam, qualvoll und für den Betroffenen wie auch für die Angehörigen ein ganz tragisches Schicksal.

Warum geschieht nichts?

Die Antwort ergibt sich von seihst aus einer Gesellschaftsstruktur, in der niemand Verantwortung tragen will und der wirtschaftliche Gewinn, der geldliche Vorteil alles entscheidet. In einer Zeit, da man für den Augenblicksgenuß alles zu opfern bereit ist und jeder Gedanke an Eigenverantwortlichkeit wie lästiger Ballast abgeschüttelt wird, findet sich niemand an verantwortlicher Stelle, der sich zu einer so unpopulären und für ihn auch gewiß kaum vorteilhaften Aufklärung zur Verfügung stellen würde. Die Süchtigkeit hat ein solches Ausmaß angenommen, daß es einfach ausi- sichtslos zu sein scheint, etwas unternehmen zu wollen. Und doch bietet ein Beispiel vergangener Monate den gültigen Beweis, daß harte Maßnahmen doch zum Ziel führen. Man erinnere sich nur an die von Monat zu Monat steigenden Zahlen der Verkehrstoten, an die unzähligen Fälle von Trunksucht am Volant, an die immer größer werdende Zahl von Krüppeln nach Verkehrsunfällen, bis man ein hartes und klares Gesetz einführte. Ach, was gab es doch für Klagen über die armen Spirituosenerzeuger, die nun in so unverdiente Not gerieten! Doch der Erfolg, das sprunghafte Zurückgehen der Unfallziffern, ließ diese wehleidigen Stimmen bald verstummen.

Es kann — leider — keinen Zweifel geben, daß der Tabakkonsum in den nächsten Jahren weiter ansteigen wird, daß Jugendliche und Frauen immer mehr zu rauchen beginnen und die allgemeinen Rauchsitten eine noch weitere Auflockerung erleben werden. Es findet beispielsweise heutzutage niemand mehr etwas dabei, wenn Frauen auf der Straße rauchen. Wer heuer Gelegenheit hatte, am Ostersonntag zum Papstsegen auf dem Petersplatz zu weilen, w,ird mit Erstaunen registriert haben, daß während der Messe, ja sogar während der Wandlung, ungeniert von Mann und Frau geraucht wurde!

Der Lungenkrebs aber wird zunehmen, heimtückisch, schleichend und das Leben abwürgend. Bis man zu einem allerdings noch ziemlich fernen Zeitpunkt erkennen wird, daß das Leben einer ganzen Generation gefährdet ist, und man sich doch entschließen wird, zumindest die Jugend rückhaltlos aufzuklären. Bis dorthin aber werden Hunderttausende sterben müssen.

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