Der Aufbruch in die Welt der Zeitreisen

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Der Klimawandel bringt auch Sturmfluten und Küstenerosion mit sich: Ein Teil der UNESCO-Welterbestätten am Mittelmeer sei dadurch bedroht, berichteten kürzlich deutsche Forscher: das türkische Ephesos, die Ruinen von Karthago oder die Lagune von Venedig. Anders Levermann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hat es noch schärfer formuliert: "Venedig werden wir verlieren" - nur wann sei noch offen. Doch selbst wenn sich dies dereinst bewahrheiten sollte: Mit ihrer großen Geschichte könnte die Lagunenstadt künftig prächtiger denn je vor unserem geistigen Auge erscheinen.

Von Venedig nach Palmyra

Einen Vorgeschmack dafür liefert die "Venice Time Machine", die an der Hochschule EPFL in Lausanne entstanden ist. Frédéric Kaplan, Gründungsvater des Projekts, ist dort Professor für "Digital Humanities" und forscht an der Schnittstelle von Informatik und Geisteswissenschaft. Seit 2012 arbeitet sein Team daran, eine Simulation Venedigs über 1000 Jahre zu erstellen, indem altes Archivmaterial digital verfügbar gemacht wird -Briefe, Steuerlisten, Sterbeurkunden, etc. 80 Kilometer Bücher werden dafür eingescannt. Dadurch wird es möglich, Forschungsfragen quer durch riesige Datenmengen zu verfolgen, zum Beispiel: Wer war mit wem verwandt, verbündet oder verfeindet? Eine gigantische Suchmaschine, ein soziales Netzwerk für historische Zusammenhänge bildet sich heraus - wie ein Facebook oder Google der Vergangenheit. Zudem wird das heutige Venedig in 3D abgefilmt, um Geschichte und Gegenwart abzugleichen.

Dass die Vergangenheit künftig dreidimensional vor unseren Augen stehen wird, glaubt auch Thomas Aigner, Präsident des Internationalen Zentrums für Archivforschung (ICARUS) in Wien. Das internationale Netzwerk feiert am 9.11. in Wien sein zehnjähriges Jubiläum (siehe Kasten unten). "Stellen Sie sich vor, Sie kaufen ein Grundstück und möchten wissen, was sich früher dort abgespielt hat", sagt Aigner. Stoßen Sie auf alte Gebäudereste, wenn sie zu bauen beginnen? Stand dort ein Garten, ein Gasthaus oder - für die Freunde des Gruselgenres - ein Folterkeller? Mit Hilfe digitaler Plattformen und künstlicher Intelligenz sollen derartige Fragen bald auf Knopfdruck lösbar sein.

Ein Ehrengast der ICARUS-Feier in Wien ist Pater Michaeel Najeeb, katholischer Geistlicher aus dem Irak. Bekannt wurde er durch seine Bemühungen, christlich-chaldäische Handschriften vor dem IS zu retten. Unterstützt wurde er dabei auch vom Verein ICARUS, der etwa Scanner zur Digitalisierung oder Workshops für Restauratoren finanziert hat. Terroristen haben im Irak und in Syrien zwar Dörfer, Kirchen, Moscheen und Kunstwerke zerstört. Doch das digitale Knowhow trägt zur Bewahrung des Kulturguts bei: So wurden 3D-Karten verwüsteter Stätten erstellt und beschädigte Monumente wie der Triumphbogen von Palmyra mittels 3D-Drucker rekonstruiert.

Historie als ökonomischer Faktor

Auch Zeitreise-Projekte sollen die Vergangenheit für die Zukunft retten: Venedig ist hier nur der Anfang -derzeit läuft ein Antrag von ICARUS für das EU-Großforschungsprojekt "Time Machine", bei dem gar 2000 Jahre an europäischer Geschichte nachgebildet werden sollen. Das zehnjährige Projekt könnte eine Milliarde an Forschungsgeldern lukrieren, um den alten Traum von Zeitreisen mithilfe moderner Technologien zu realisieren. Eine neue Allianz aus Technikern und Geisteswissenschaftlern hat sich dabei herausgebildet.

"Die Grenzen zwischen den Archiven, der Wissenschaft und der Industrie werden heute aufgebrochen, um unser kulturelles Erbe für alle verfügbar zu machen", so Aigner. "Man sieht das bereits an Computerspielen, die auf seriöser historischer Forschung beruhen, ganz zu schweigen von neuen Anwendungen im Tourismus oder im Schulunterricht." Die Aufbereitung von Geschichte wird Arbeitsplätze schaffen, ist Aigner überzeugt. Historische Information werde künftig für viel mehr Bevölkerungsgruppen zugänglich sein -und durch Visualisierung zu neuem Leben erwachen. So wie Frédéric Kaplan werden daher immer mehr Experten von einer großen Vision beflügelt: "Wir werden alle Zeitreisende!"

Die Grenzen zwischen Archiven, Wissenschaft und Industrie werden heute aufgebrochen, um unser kulturelles Erbe für alle verfügbar zu machen (Thomas Aigner).

Digitaler Transfer

Der Zugang zu unserem kulturellen Erbe wird heute auf ein neues Fundament gestellt: Beim Projekt der venezianischen Zeitmaschine etwa wurden bis zu 1000 Seiten pro Stunde eingescannt.

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