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Der Balanceakt

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Bel gleichbleibenden Voraussetzungen wird sich die Bevölkerungszahl der Erde im Jahre 2000 verdoppelt haben, und zwar auf 6,4 Milliarden Menschen. Dabei wächst die Bevölkerungszahl am schnellsten in den Entwicklungsländern. Das klingt zunächst widersinnig, wenn man bedenkt, unter welchen Verhältnissen die Menschen dort leben. Es bleibt oft unerwähnt, wie viele Menschen in diesen Ländern an epidemischen Krankheiten, an Pest, Aussatz, Tuberkulose, Malaria, Pocken, Wurm- krankhedt, Cholera, Thyphus und Schlafkrankheit, an Unterernährung und aus Manigel an Hygiene sterben. Aber trotz der hohen Sterbeziffern und der geringen Lebenserwartung sind diie Geburtenüberschüsse in den meisten Entwicklungsländern bedeutend größer als in den industrialisierten Staaten.

Der übermäßige Bevölkerungszu- zuwachs ist heute auch das größte Hindernis für den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt der Völker in den Entwicklungsgebieten.

Die durchschnittliche Bevölkerungs- Zuwachsrate liegt heute für die ganze Welt bei zwei Prozent. Viele Entwicklungsländer weisen aber eine Zuwachsrate von jährlich 3,5 Prozent und darüber auf. Wie aber den Be- völkerungsüberschuß vermindern? Dafür gibt es drei Möglichkeiten: die Sterblichkeitsrate zu erhöhen, die Auswanderung zu forcieren oder die Geburtenhäufigkeit zu verringern.

Niemand wird der ersten Möglichkeit das Wort reden wollen. Es ist sogar zu begrüßen, daß dank des Ausbaues der öffentlichen Gesundheitsdienste die Sterberaten in den Entwicklungsländern weiter fallen werden. Die zweite Möglichkeit ist praktisch nicht existent. Aus Sorge um die Überbevölkerung wird sich kein Land bereit finden, mehr als eine beschränkte Zahl von Auswanderern aufzunehmen.

Das Vergnügen der Armen

Somit verbleibt nur noch die dritte Alternative: eine Verminderung der Geburtenhäufigkeit. Die hohen Geburtenraten in den Entwicklungsgebieten machen die Entwicklungsbemühungen größtenteils zunichte.

Dort muß der Staat heute einen ungewöhnlich hohen Anteil des ohnehin beschränkten Sparaufkommens auf die Beschaffung des niedrigsten Existenzminimums an Nahrungsmitteln statt auf produktive Investitionen verwenden.

Pläne zur Förderung des Fortschritts verflüchtigen sich in den enormen Anstrengungen, zumindest den Status quo zu erhalten.

Die Statistik sagt, daß Abtreibung noch immer die häufigste Methode der Einschränkung der Fruchtbarkeit ist — trotz der Tatsache, daß sie in den meisten Ländern als Verstoß gegen die Moral gilt, verboten, kostspielig und riskant ist. In Indien schätzt man, daß monatlich eine Vierteirnillion gesetzwidriger Abtrei bungen vargemommen weiden. In einem lateinamerikanischen Land soll die Abtrei bungsrate dreimal so hoch sein wie die Geburtenrate. Die größte Häufigkeit von Abtreibungen findet sich gerade in jenen Gebieten, wo die Familienplanung unzureichend organisiert ist.

In Europa dauerte es rund siebzig Jahre, die Geburtenrate auf den derzeitigen Stand zu senken. In den Entwicklungsländern liegt sie gegenwärtig bei 40 bis 50 pro tausend Einwohner. Sie auf den europäischen Satz von 17 bis 20 herabzudrücken, würde auf eine Verminderung der Geburtenziffer in den Entwicklungsländern um jährlich 50 Millionen h mauslaufen.

Selbst bei konsequenter Familien planung ließe sich ein solches Ergebnis bestenfalls in zwei bis drei Jahrzehnten erzielen. Kein Staat vermag natürlich die Bevölkerung zur Familienplanung zu überreden, wenn die BLtem diese aiblehnen. Noch dazu, weil in diesem Zusammenhang grundsätzliche Fehler gemacht wurden: So wurden zum Beispiel dem pakistanischen Mann 150 Schilling dafür geboten, wenn er sich sterilisieren ließ — zuvor hatte man bei 5,7 Millionen Indem eine Massensterilisation durchgeführt. Selbst die ungebildetsten Bevölkerungsschichten der Entwicklungsländer sind dahintergekommen, welches schändliche Spdel mit ihnen getrieben werden soll.

Abgesehen von der moralischen und religiösen Bedenklichkeit der Pille ist sie von vornherein nicht dazu geeignet, ein Mittel für die Geburtenregelung und Familienplanung zu sein.

Menschenwürde?

Ohne Familienplanung ist aber die Bevölkerungsexplosion nicht einzudämmen. Und sie ist zudem ein Menschenrecht, das in der „Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen im Jahre 1948 genannt wurde. Denn nur dadurch ist auch echte „Bevölkerungskontrolle“ gewährleistet. Dieser Ausdruck wurde vor einigen Jahren in Umlauf gebracht, als Bevölkerungskundler und Wirtschaftswissenschaftler sich der Probleme der rapiden Bevölkerungszunahmen in der Dritten Welt bewußt wurden. Eigentlich ist der Ausdruck irreführend, da er den Eindruck einer Zwangsgeburtenbeschränkung hervorruft — der sich entweder in den vorhin erwähnten Methoden widerspiegelt oder in erduldeter Kinderlosigkeit —, nicht aber eine solche meint.

Joan Rettie vertritt im „Deutschen Allgemeinen Sonntagslblatt“ die Ansicht, daß Familienplanung in vier Etappen zu geschehen hätte und erachtet folgenden Prozeß als notwendig:

• Gründung eines nationalen Fami- lienpl'anungsrates oder Verbandes, in dem alle wichtigen Berufe — betreffend Gesundheit, Fürsorge und Erziehung — und die wichtigsten Regierungsstellen vertreten sind.

• Staatliche Kontrolle von Qualität, Preisen und Vertrieb der Verhütungsmittel.

• Umfassende Ausbildung auf dem Gebiet der Familienplanung in allen medizinischen Lehrinstituten.

• Erschließung der Beratungsmöglichkeiten in Spitälern, Mütter- und Kindergesundheitszentren durch praktische Ärzte und, falls nötig, die Gründung von zusätzlichen Zentren. Schon die hier nur kurz angedeutete Problematik zeigt, daß man zwar schon das Wunderwort „Familien Planung“ gefunden hat, aber noch nicht den gangbaren Weg, sie auch in die Tat umzusetzen.

Auch U Thant betrachtet „die Familienplanung als einen unerläßlichen Bestandteil der Menschenwürde“.

Was kann nun wirklich unternommen werden, um der Bevölkerungsexplosion Herr zu werden? Es ist eine Erfahrungstatsache, daß sich mit der beginnenden Industrialisierung und mit dem Eintritt des Wohlstandes die Geburtenüberschüsse verringern. Ziel einer gegen die Überbevölkerung gerichteten Politik muß deshalb die Hebung des Lebensstandards in den Ländern der Dritten Welt sein. Wild dieses Ziel erreicht, wird auch das Problem der Bevölkerungsexplosion lösbar werden, abgesehen von der Notwendigkeit einer effektiven Familienplanung, die neben den sonstigen Bemühungen noch zusätzlich einzugreifen hat.

Und dieses Ziel scheint nidit einmal zu hoch gesteckt zu sein: Bei vielen Entwicklungsländern kann man trotz der Armut der Menschen vom Reichtum der Länder sprechen. Der Reichtum der Staaten der Dritten Welt sind ihr Land und die Rohstoffe und Bodenschätze, das es birgt. Hier einige Beispiele: Brasilien hat die größten Manganerzvorkommen der Welt; es besitzt fast alle auf der Erde vorkommenden Bodenschätze. Chile lieferte bis 1914 mehr als zwei Drittel des gesamten Weltbedarfes an Salpeter, der trotz der Erfindung der künstlichen Düngemittel auch noch heute ein Welthandelsobjekt ist; dazu deckt es auch zwei Drittel des Weltverbrauches an Jod. Venezuela ist wegen seiner Bodenschätze Erdöl und Eisenerz das reichste Land Südamerikas. Jamaika ist der größte Baiuxitlieferant der Erde. Die Türkei ist führend in der Chromerzeugung und in der Lieferung von Meerschaum. Jordanien besitzt die reichsten Phosphatlager der Welt. Im Irak und in Saudi-Arabien bilden riesige Erdöllager die Lebensgrundlage dieser Staaten. Indien verfügt über 75 Prozent der Weltvarräte an Glimmer, über 25 Prozent der Welt- vorkommen an Eisen und liefert mehr als 30 Prozent des Weltbedarfes an Mangan. Malaysia steht in der Zinnerzeugung der Welt an erster Stelle, und Indonesien kann für den Femen Osten das meiste Erdöl liefern.

Ganz Afrika ist an der Welterzeugung der verschiedenen Bodenschätze schon heute mit höchsten Prozentsätzen beteiligt, und überhaupt bergen die Entwicklungsländer neben den bereits geförderten Bodenschätzen noch ungeheure Mengen an ungehobenen.

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