Der geniale Dr. Seltsam

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Er war ein einfacher Beamter - und veränderte die Vorstellungen von Raum und Zeit; er war ein glühender Pazifist - und drängte zum Bau der Atombombe; er war der Prototyp des zerstreuten Professors - und ein Liebling der Frauen: Kaum ein Mensch vereinte in sich so viele Widersprüche wie Albert Einstein (1879-1955). Vor genau 50 Jahren starb mit ihm der erste Popstar der Wissenschaft. Das vorliegende Dossier zeigt Facetten dieser großen Persönlichkeit, dem auch das heurige Unesco-Weltjahr der Physik gewidmet ist. Redaktion: Doris Helmberger Man schrieb das Jahr 1905, als ein unbekannter Berner Patentbeamter namens Albert Einstein mit höchst eigenwilligen Theorien die Physik revolutionierte.

Mit Albert Einstein starb am 18. April 1955 im Princeton-Hospital der berühmteste Wissenschafter des 20. Jahrhunderts. Ohne Sentimentalität und Bedauern sei er von dieser Welt gegangen, sagte seine Stieftochter Margot. Seine Einstellung dem Tod gegenüber hatte er noch wenige Tage vor seinem Lebensende geäußert: "Ich möchte gehen, wann ich möchte. Es ist geschmacklos, das Leben künstlich zu verlängern. Ich habe meinen Anteil getan, es ist Zeit zu gehen."

Kein Naturwissenschaftler war jemals so populär wie Einstein. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Charlie Chaplin sagte einmal zu Einstein: "Mir spenden die Leute Beifall, weil mich alle verstehen, und Ihnen, weil niemand Sie versteht." Staunend steht man vor dem Genie, das eine völlig neue physikalische Theorie erdacht hat, die die Natur offenbar richtig beschreibt, die aber unserer Alltagserfahrung völlig entgegenläuft. Einstein schuf ein neues Universum, und das nur mit Papier und Bleistift. Ohne Beispiel war auch sein Arbeitsstil. Nahezu im Alleingang und oft gegen den Trend der aktuellen Physik entwickelt er seine Theorien. Anders als etwa bei der Quantentheorie, die das Werk vieler war.

Fünf auf einen Streich

Doch auch im Privaten war Einstein außergewöhnlich. Ohne Scheu bezog er zu politischen Entwicklungen Stellung, setzte sich für Humanität und Pazifismus ein und engagierte sich gegen Rassismus. Nicht zuletzt wurde der alte Mann mit den wirren Haaren und dem verträumten Blick zum Symbol des genialen Wissenschaftlers schlechthin. Dass er in der Ehe und als Vater großteils versagt hat, steht auf einem anderen Blatt.

Einsteins Anteil an der modernen Physik ist in jedem Fall überragend. Im Jahr 1905 veröffentlichte der damalige Angestellte des Berner Patentamts in einem Geniestreich fünf bahnbrechende Arbeiten. Mit einer legte er das Fundament für die Quantentheorie. Für sie ehrte man ihn 1922 mit dem Physik-Nobelpreis. In zwei Arbeiten beschrieb er die Diffusion und die Brownsche Bewegung. Sie machten es erstmals möglich, die Größe von Molekülen zu ermitteln. Dies brachte ihm den lang ersehnten Doktortitel. Mit der Speziellen Relativitätstheorie schließlich revolutionierte er unsere Vorstellungen von Raum und Zeit und verknüpfte Materie und Energie in der berühmtesten Formel aller Zeiten: E=mc2. Hierfür wurde er berühmt. Nie zuvor oder danach hat es ein solches Feuerwerk physikalischer Ideen gegeben. Dieses Annus mirabilis - dieses Wunderjahr - feiern in diesem Jahr Physiker in aller Welt.

Trotz Einsteins vielfältiger Beiträge zur modernen Physik steht sein Name heute fast synonym für die Relativitätstheorie. Deren Entdeckung kam nicht aus heiterem Himmel. Ende des 19. Jahrhunderts hatten die beiden Physiker Albert Michelson und Edward Morley mit bis dahin unerreichter Genauigkeit die Lichtgeschwindigkeit gemessen und dabei etwas Unerklärliches festgestellt: Ein Lichtstrahl war offenbar immer gleich schnell, egal, wie man sich relativ zu ihm bewegte.

Seltsames Licht

Das war seltsam, denn es widersprach dem Gesetz der Geschwindigkeitsaddition, das schon Galilei kannte und uns selbstverständlich zu sein scheint. Fährt ein Auto mit 120 Kilometer pro Stunde auf der Autobahn und überholt einen 90 Kilometer pro Stunde schnellen lkw, so wird eine Radarkontrolle am Straßenrand diese beiden Geschwindigkeiten messen. Aus der Sicht des lkw-Fahrers aber zieht das Auto mit nur 30 Kilometer pro Stunde an ihm vorbei. Wenn Autos sich wie Licht verhielten, so hätten Michelson und Morley nicht stets denselben Wert für die Lichtgeschwindigkeit gemessen.

Im Grunde war den Physikern damals das Problem der konstanten Lichtgeschwindigkeit bekannt, aber keiner konnte es richtig deuten. Hierfür bedurfte es des Genies Einstein, der sich bereits als 16-Jähriger gefragt hatte, wie es wohl wäre, wenn man einem Lichtstrahl nachliefe oder auf ihm ritte. Einstein behauptete: Das einfache Gesetz der Geschwindigkeitsaddition ist falsch. Nach der Speziellen Relativitätstheorie berechnen sich die gegenseitigen Geschwindigkeiten nach einer etwas komplizierteren Formel. Bei den verhältnismäßig kleinen Geschwindigkeiten im Alltag bemerken wir hiervon nichts. Aber mit zunehmender Geschwindigkeit werden die Abweichungen von der Newtonschen Physik immer größer. Bei Erreichen der Lichtgeschwindigkeit tritt eine seltsame Konsequenz ein: Ein Lichtstrahl besitzt immer dieselbe Geschwindigkeit von 300.000 Kilometer pro Sekunde. Daraus ergab sich auch die verblüffende Erkenntnis, dass sich kein Körper und keine Art von Information mit Überlichtgeschwindigkeit bewegen kann.

Gedehnte Zeit

Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit widerspricht unserer Alltagserfahrung, aber wir müssen sie anerkennen. Alle Experimente, die in den vergangenen Jahrzehnten ausgeführt wurden, bestätigen sie. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt für alle seltsamen Konsequenzen der Einsteinschen Theorie.

Die spektakulärste ist wohl die Zeitdehnung, wonach die Zeit in einem schnell bewegten System langsamer vergeht als in einem langsamen. Dieser Effekt wurde vielfach in unterschiedlicher Weise experimentell bestätigt. Im Jahre 1971 beispielsweise installierten amerikanische Physiker vier Atomuhren in Reisejets und flogen damit um die Erde. Anschließend verglichen sie die Atomuhren mit einer anderen, die im Labor verblieben war, und fanden die von Einstein vorhergesagte Zeitdehnung.

Entscheidend ist, dass die Verlangsamung der Zeit nicht durch Beeinflussung der Uhren zustande kommt. Die Zeit an sich verläuft unterschiedlich schnell. Das wirkt sich auf alle Vorgänge aus, auch auf biologische. Der Effekt lässt sich dort aber nicht nachweisen, weil es keine Raumschiffe gibt, die auch nur annähernd Lichtgeschwindigkeit erreichen. Die Apollo-Astronauten beispielsweise sind auf ihren acht Tage währenden Flügen etwa um eine hunderttausendstel Sekunde weniger gealtert als ihre Kollegen am Boden. Zumindest rein rechnerisch.

Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit hat nicht nur zur Folge, dass die Zeit unterschiedlich schnell vergeht. Auch die Frage der Gleichzeitigkeit lässt sich nicht mehr eindeutig entscheiden. Zwei Ereignisse, die ein Beobachter gleichzeitig wahrnimmt, können für jemand anderes, der sich relativ zum ersten Beobachter bewegt, nacheinander stattfinden. Und beide haben Recht.

Die Begriffe Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wurden damit in der Speziellen Relativitätstheorie neu definiert. Einstein selbst bezeichnete sie später als "hartnäckige Illusionen". Allerdings wird nie das Kausalitätsprinzip verletzt, wonach stets die Ursache der Wirkung vorausgeht.

Im September 1905 tüftelte Einstein auch ein weiteres folgenschweres Gedankenexperiment aus. Er dachte sich einen Körper, der zwei Lichtwellen in entgegengesetzte Richtungen aussendet. Dann berechnete er die Energie dieses Körpers für zwei Situationen: Einmal ruht der Körper relativ zu einem Beobachter, ein anderes Mal bewegt er sich an diesem vorbei. Das Ergebnis, bei dem die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit wieder die zentrale Rolle spielte, war verblüffend: Gibt ein Körper Energie in Form von Strahlung ab, so verkleinert sich seine Masse.

In Einsteins Gedankenexperiment ist zunächst nur von Strahlung die Rede, es trifft aber auf jede Form von Energie zu. Weitsichtig folgerte Einstein deshalb: "Die Masse eines Körpers ist ein Maß für dessen Energieinhalt." Das besagt die Formel E=mc2, wonach Energie E und Masse m ineinander umwandelbar sind. Der Umrechnungsfaktor, das Quadrat der Lichtgeschwindigkeit, ist eine sehr große Zahl, weswegen wenig Materie sehr viel Energie beinhaltet. Welche Größenordnungen hier erreicht werden, zeigen Kernreaktionen. In Atomkraftwerken wird in der kontrollierten Spaltung von Uran-Atomkernen ein Tausendstel der Kernmaterie in Energie umgesetzt. Bei Atombomben setzt die Kettenreaktion in Bruchteilen einer Sekunde enorme Energiemengen frei.

So sehr die Formel E=mc2 aus dem Jahr 1905 unsere Welt verändern sollte: Als wertvollsten Fund seines Lebens bezeichnete Einstein jene Theorie, die er erst zehn Jahre später, im November 1915, präsentierte und deren mathematische Komplexheit ihn an den Rand der Verzweiflung brachte: die Allgemeine Relativitätstheorie. Während die Spezielle Relativitätstheorie nur für gleichförmig bewegte Systeme galt, integrierte sie auch den Faktor Beschleunigung und lieferte so eine völlig neue physikalische Beschreibung der Schwerkraft. Nach Einsteins Theorie krümmen Himmelskörper den Raum um sich herum, ähnlich wie schwere Kugeln in einem gespannten Gummituch Mulden um sich herum erzeugen. Alle Körper und auch Licht müssen dieser Krümmung folgen und werden dadurch scheinbar von den Himmelskörpern angezogen. Diese Vorhersage bestätigten erstmals britische Astronomen im Mai 1919. Während einer totalen Sonnenfinsternis konnten sie nachmessen, wie das Licht ferner Sterne das Schwerefeld der Sonne auf gebogenen Bahnen durchläuft. Damit hatte der einstige Angestellte des Berner Patentamts den Gipfel seines Ruhmes erreicht.

Der Autor ist Diplomphysiker und arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist.

BUCHTIPP:

ALBERT EINSTEIN. Von Thomas Bührke. 2. Aufl. dtv, München 2005. 191 Seiten mit zahlr. Abb., kart., e 10,30.

(=dtv portrait. 31074.)

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