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Der rechte Klang im rechten Ohr

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Durch „Klangmassage” werden nun auch in Osterreich immer mehr Menschen von ihren Hörproblemen befreit.

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Durch „Klangmassage” werden nun auch in Osterreich immer mehr Menschen von ihren Hörproblemen befreit.

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Die schnarrenden Töne aus den Kopfhörern erinnern nur entfernt an Mozart. Daß diese Berieselung wohltuend sein soll, ist schwer vorstellbar. Trotzdem sieht man in den Therapieräumen des Tomatis-Institutes nur entspannte Gesichter. Kinder blättern in Bilderbüchern, manche malen, eine Frau strickt, einige schlafen sogar. Alle fühlen sich sichtlich wohl.

Kein Wunder, tönen doch für jeden Zuhörer individuell abgestimmte Frequenzen aus den Kopfhörern: Genau diejenigen, die er nicht oder schlecht wahrnimmt - so gefiltert, daß sie ihn in eine Klangwelt „ähnlich wie im Mutterleib” versetzen. Durch diese vom französischen HNO-Arzt Alfred Tomatis entwickelte „Klangmassage” soll das Ohr in geschädigten Gehörbereichen neu hören lernen.

Die Gründe, warum Menschen bestimmte Frequenzen ausblenden, sind vielfältig: Schädliche Lärmeinwirkung kann ebenso die Ursache sein wie psychische Belastungssituationen und die unbewußte Entscheidung, nicht mehr hören zu wollen. Die Folgen reichen von minimalen Höreinschränkungen bis hin zu Hörsturz, Schwerhörigkeit und Taubheit.

Die gefilterten Schallwellen aus den Kopfhörern sollen das Mittelohr anregen, auch in den vernachlässigten Frequenzbereichen wieder die zum Hören erforderliche Trommelfell-Spannung herzustellen und den nötigen Druck im Innenohr aufzubauen. Durch die Zurückversetzung in das „Milieu des intra-uterinen Hörens” (Tomatis) werden außerdem festgefahrene Muster des Hörens und Weghörens gelöscht. Mozart-Musik eignet sich dafür besonders, weil diese Erwartung erfahrungsgemäß auf die Klienten nicht beängstigend wirkt. Aber auch gefilterte Tonaufnahmen der Mutterstimme werden verwendet - schließlich sind es diese hohen Frequenzen, die der Fötus im Mutterleib als erstes wahrnimmt.

Die Erfolge sind erstaunlich: „Alles ist heller geworden”, erzählt ein siebenjähriges Mädchen, das an mit-telgradiger Schwerhörigkeit litt und seit der Hörtherapie im Innsbrucker Tomatis-Institut nicht nur normal hört, sondern auch seine Rechtschreibschwäche zu überwinden beginnt. Auch viele Erwachsene erleben nach einem erfolgreichen Hörtraining ihre Umgebung „heller und freundlicher” und sich selbst als selbstbewußter, leistungs- und konzentrationsfähiger.

Daß das Ohr „nicht nur zum Hören da ist”, erkannte Alfred Tomatis schon Ende der vierziger Jahre, als er im Auftrag der französischen Luftwaffe Untersuchungen über berufsbedingte Hörschäden durchführte. Er zeichnete die „Hörkurven” der einzelnen Patienten auf und stellte zunächst fest, daß „Luftleitung” und „Knochenleitung” oft voneinander abweichen; daß also Schallwellen von außen anders wahrgenommen werden als selbsterzeugte Töne, die über Kehlkopf, Halswirbelsäule und Schädelknochen zum Innenohr gelangen. In weiterer Folge erkannte er Zusammenhänge zwischen Hörschäden und verschiedenen körperlichen und psychischen Reein-trächtigungen - was ihm zunächst viel Skepsis seitens der Schulmedizin einbrachte.

Inzwischen wurde seine Rehand-lungsmethode von der französischen Akademie der Wissenschaften anerkannt, wissenschaftliche Arbeiten in Frankreich, Belgien und Kanada bestätigten seine Untersuchungsergebnisse. Dennoch bestünde „noch immer eine Art Ghettosituation”, sagt der Musikpädagoge Werner Pelinka, der eines der beiden Wiener Tomatis-Institute leitet. Deshalb gibt es die Hörtherapie nicht auf Krankenschein, wenn auch schon in Einzelfällen von kleinen Kassen Behandlungskosten übernommen wurden. Tatsächlich ist ein Defizit an theoretischer Fundierung nach wie vor unbestreitbar - was sich aber bald ändern könnte: Am Institut für Psychologie der Universität Wien „werden demnächst die ersten Diplomarbeiten zum Thema vergeben”, kündigt Universitätsprofessor Erich Vanecek, Leiter der neugegründeten Abteilung für Musikpsychologie, an. Die Behandlungsmethode, die sich in weltweit 200 Tomatis-Instituten in der Praxis bewährt hat, wird damit endlich in Österreich zum wissenschaftlichen Thema.

Jede Therapie beginnt mit einem Hörtest. Das eigentliche Horchtraining - mit jeweils zweistündigen Behandlungseinheiten - verläuft in zwei Phasen: Zuerst fünfzehn Tage und nach einer mehrwöchigen Pause weitere acht Jage. Objektive Erfolgskontrolle sind die Hörtests nach jeder Behandlungsphase, bei denen Veränderungen in der Hörkurve sichtbar werden. „Die vollen Auswirkungen der

Behandlung können sich erst nach Wochen und Monaten zeigen”, erklärt Werner Pelinka.

Die ersten, die von Tomatis' Erkenntnissen profitierten, waren Sänger und Schauspieler, unter ihnen Maria Callas und Gerard Depardieu. Tomatis hatte festgestellt, daß die Stimme nur Frequenzen reproduziert, die das Ohr hört. „Stimmprobleme” sind daher in Wahrheit oft Hörprobleme und können behoben werden, wenn es gelingt, das Gehör zu verbessern.

Ebenso können Sprachstörungen, Lese- und Rechtschreibschwächen vom Ohr ausgehen. Im Normalfall ist das rechte Ohr beim Hören das wichtigere. Da die rechte Körperseite mit der linken Gehirnhälfte verbunden ist, wird das mit dem rechten Ohr Gehörte in der linken Gehirnhälfte verarbeitet, in der auch das Sprachzentrum lokalisiert ist - ideale Voraussetzungen für eine flüssige Kommunikation. Menschen, die primär mit dem linken Ohr hören, verarbeiten dagegen die eingehenden Impulse in der rechten Gehirnhälfte. Nach Worten suchen können sie jedoch nur im in der linken Gehirnhälfte gelegenen Sprachzentrum - sie schalten also von rechts nach links und wieder zurück. Verzögerte Sprachreaktion, langsames Sprechen oder Stottern sind die Folgen. Nimmt jemand bestimmte Schallimpulse primär linksseitig, andere primär rechtsseitig wahr, dann entsteht ein Klangsalat -das erschwert zwangsläufig das Lesen und Rechtschreiben.

In all diesen Fällen muß das rechte Ohr darauf trainiert werden, die führende Rolle beim Hören zu übernehmen. Immer mehr Kinder mit Sprachproblemen oder schulischen Leistungsschwächen kommen daher in die Tomatis-Institute. Die Erfolgsquoten liegen bei 70 bis 80 Prozent.

Sogar Autismus gehört zum Anwendungsbereich der Tomatis-Methode. Kinderpsychologin Eszter Banffy, Leiterin des Innsbrucker Institutes: „Wenn die Kinder erst einmal hören und verstehen, kann man mit ihnen auch kommunizieren. Und viele beginnen früher oder später zu reden.”

Die praktische Wirkung der Hörtherapie ist unbestreitbar - dennoch führt der Weg aus dem wissenschaftlichen Ghetto nur über eine intensive Auseinandersetzung. Das Forschungsprojekt an der Wiener Uni könnte endlich die Türen für die Hörtherapie öffnen.

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