"Die Biopolitik ist doppelmoralisch"

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Scharfsinniger Jurist, brillanter Essayist - und rotes Tuch für Lebensschützer: Im Furche-Interview spricht der Hamburger Rechtsphilosoph Reinhard Merkel über die Doppelzüngigkeit deutscher Biopolitiker, das eingeschränkte Lebensrecht von Embryonen sowie die Vertretbarkeit "therapeutischen" und reproduktiven Klonens.

Die Furche: Seit Jahresbeginn wird in Deutschland an importierten embryonalen Stammzellen geforscht. Sie bezeichnen das zugrunde liegende Gesetz als "heuchlerisch"...

Reinhard Merkel: Erst einmal nenne ich es doppelmoralisch - und zwar deshalb, weil es deutschen Forschern erlaubt, an importierten Stammzellen zu forschen, deren Entstehungsbedingungen man als schweres Verbrechen gegen Menschenwürde und Lebensrecht kennzeichnet. Wir sollten uns bei solchen schweren Verbrechen - wenn das denn wahr wäre - nicht anschließend als Profiteure anhängen. Man stelle sich vor, unsere Regierungen würden Verträge mit China über die Lieferung von Organen jener Menschen schließen, die dort verurteilt und hingerichtet werden. Es gäbe einen Aufschrei in Deutschland - und es gäbe ihn vollkommen zu Recht.

Die Furche: Hätten Sie sich also konsequenterweise ein Stammzellimportverbot in Deutschland gewünscht?

Merkel: Ich hätte mir gewünscht, dass der deutsche Gesetzgeber das Embryonenschutzgesetz ändert, dass er den Mut hat, zu sagen: Die Embryonenforschung ist moralisch begründbar und verfassungsrechtlich zulässig. Das wäre die moralisch richtige Lösung gewesen. Allerdings hätte ich mir lieber den Totalverzicht auf die Embryonenforschung gewünscht als eine solche Doppelmoral.

Die Furche: Das deutsche Grundgesetz stellt menschliches Leben von Anfang an unter seinen Schutz. Sie meinen jedoch, dieser grundrechtliche Schutz würde nicht bestehen...

Merkel: Ja. Unsere Verfassungsgericht hat auf die Fassade des gesellschaftlichen Lebens ein nobles Grundrecht für den Embryo gepinselt. Hinter der Fassade geht es aber ganz anders zu - und zwar gerade wegen der Anordnungen, die das Verfassungsgericht zwangsverbindlich selbst trifft: dass nämlich über eine Abtreibung zuletzt die Schwangere allein entscheiden darf und dass ihr im Falle einer Entscheidung pro Abtreibung der Staat dabei helfen muss. Mit einer solchen Tötungserlaubnis samt staatlicher Beihilfe ist aber ein Grundrechtsstatus des Embryos definitiv unvereinbar. Rechtsnormen existieren aber nicht im Modus der Druckerschwärze auf Papier, sondern nur im Modus ihrer wenigstens minimalen sozialen Wirksamkeit. Man muss sich das klar machen: 250.000 Mal jedes Jahr liegen in Deutschland die Voraussetzungen der angeblichen Verbotsnorm vor - und 250.000 Mal wird sie mit staatlicher Beihilfe ignoriert. Und das heißt: Sie existiert nicht als Rechtsnorm.

Die Furche: Bei einer Abtreibung handelt es sich aber um eine Konfliktsituation, die bei der Stammzellforschung nicht gegeben ist...

Merkel: Erstens: Ich kenne Frauen, die haben zehn Mal abgetrieben. Das ist für die eine Form der Geburtenkontrolle. Man sieht hier, wie billig dieser Konflikt zustande kommen kann. Zweitens ist das ein prinzipiell verfehltes Argument. Denn der Embryo kann nichts für die Entstehung dieses Konflikts, sehr wohl aber in aller Regel die Schwangere. Kein Konflikt darf aber zu Lasten des Lebens derjenigen Konfliktpartei gelöst werden, die für die Konfliktentstehung nicht zuständig ist. Das ist ein Fundamentalprinzip der Ethik und des Rechts. Zudem geht es für den Embryo um Sein oder Nichtsein, für die Schwangere dagegen nur um ihre Lebensqualität. Wenn also eine Abtreibung zulässig ist, dann wird dem Embryo das Lebensgrundrecht abgesprochen - da beißt die Maus keinen Faden ab.

Die Furche: Dagegen könnte man argumentieren, dass Frauen wohl an der Entstehung dieser Konfliktsituation beteiligt sind - aber ohne den Willen, sie heraufzubeschwören. Sie sind ja ungewollt schwanger, etwa weil ihre Verhütungsmethode fehlgeschlagen ist...

Merkel: Das mag ja sein. Aber seit wann darf man "Fehlschläge" der eigenen Lebensplanung durch die Tötung eines anderen Menschen korrigieren? Darf die Schwangere das gleichwohl, dann wird dem Embryo ein gleicher Grundrechtsstatus aberkannt.

Die Furche: Sie sprechen dem Embryo ein Grundrecht auf Leben ab, fordern aber Solidaritätspflichten ein. Was bedeutet das?

Merkel: Das bedeutet, dass der Embryo ab ovo, also von Anfang an nicht als Sache behandelt werden darf. Das wäre ein Anschlag auf unsere kollektive Menschenwürde. Wir behandeln Embryonen anders als Regenwürmer und Mausembryonen. Dafür gibt es gute moralische Gründe. Sie verstärken sich im Laufe der Schwangerschaft immer mehr, und der späte Fetus sollte nur in extremen Notfällen abgetrieben werden dürfen. Wir haben aber in Deutschland pro Jahr 700 Spätabtreibungen nach dem 6. Schwangerschaftsmonat. Unsere politischen Parteien, die den frühesten Embryo in vitro für heilig erklären, haben Spätabtreibungen von Feten mit Down-Syndrom bis zur Geburt gesetzlich ermöglicht. Ich - der ich in Deutschland nicht als so genannter Lebensschützer gelte - halte das für einen moralischen Skandal.

Die Furche: Hier werden Ihnen viele zustimmen. Anders bei Ihrer Forderung, das "therapeutische" Klonen zuzulassen: Ihrer Meinung nach würden die vagen Chancen auf Therapien das Lebensrecht des Embryos aufwiegen.

Merkel: Selbstverständlich hat die bloße Chance auf künftige Therapien weniger Gewicht als eine Sicherheit über solche Heilungspotenziale. Aber die allermeisten Forscher sagen, dass hier eminente Chancen bestehen. Vielleicht ist die embryonale Stammzellforschung irgendwann nicht mehr erforderlich, weil die adulten Stammzellen ihre Funktion übernehmen können. Aber im Moment können wir die adulten Stammzellen nur dann verstehen lernen, wenn wir die embryonale Stammzellforschung zulassen.

Die Furche: Wenn für Sie auch vage Therapiechancen schwerer wiegen als die Solidaritätspflichten gegenüber dem Embryo, welches Gewicht messen Sie dann seinem Leben bei?

Merkel: Jede im weitesten Sinne frivole Verwendung des Embryos muss als Anschlag auf unser aller Menschenwürde strikt verboten bleiben, also etwa seine Verwendung für Kosmetika, allein für Profitzwecke oder aus bloßer Forschungsneugier. Aber alle therapeutischen Ziele einer möglichen Hilfe für schwer leidende Menschen sind erheblich gewichtiger als unsere Solidaritätspflichten gegenüber frühen, noch gänzlich empfindungslosen Embryonen.

Die Furche: Während Sie für die Zulassung "therapeutischen" Klonens plädieren, fordern Sie ein weltweites Verbot reproduktiven Klonens. Was sind Ihre Gründe?

Merkel: Das hohe Schädigungspotenzial, das nicht kontrollierbar ist. Das ist gewiss ein etwas prekäres Argument, denn es operiert in Wahrheit mit Vorstellungen, die sich dem Begriff eines "lebensunwerten Lebens" nähern. Wenn durch reproduktives Klonen ein geschädigter Mensch entsteht, so wäre ja die einzig denkbare Alternative zu seiner geschädigten Existenz seine Nichtexistenz. Also ist das, was ihn "geschädigt" hat, zugleich die existenzielle Wohltat für ihn gewesen. Denn die allermeisten behinderten und geschädigten Existenzen sind ohne Zweifel lebenswert. Es gibt aber gleichwohl ein Argument zur Ablehnung des reproduktiven Klonens: eine Art unpersönlicher moralischer Verwerflichkeit von Handlungen, selbst wenn diese niemanden konkret schädigen.

Die Furche: Gibt es Ihrer Meinung nach prinzipielle Gründe gegen reproduktives Klonen?

Merkel: Wenn diese Methode so sicher wäre wie die normale Reproduktion durch Geschlechtsverkehr: nein. Es gibt aber auch nicht viele ethisch gewichtige Gründe dafür. Bei diesen derzeitigen Klamaukmachern, den Raelianern, findet man sie jedenfalls nicht.

Das Gespräch führte Doris Helmberger.

Kühler Sezierer von Sprache und Recht

Reinhard Merkels Leidenschaft für Sprache ist evident: Sie drängte ihn zum Studium der Literaturwissenschaft - nebst Studien der Rechtswissenschaft und Philosophie -, führte ihn in die Feuilleton-Redaktion der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit" (1988 bis 1990) und bescherte ihm 1991 den Jean-Améry-Preis für Essayistik. Wenn sich Merkel auch vom Journalismus verabschieden und zur Wissenschaft zurückkehren sollte: die Sprach-Lust des Hamburger Professors für Strafrecht und Rechtsphilosophie blieb. So galt sein Schlagabtausch mit dem Philosophen Robert Spaemann Anfang 2001 in der "Zeit" als einer der essayistischen Höhepunkte der deutschen Bioethik-Debatte - und zementierte Merkels Ruf als Paria aller Lebensschützer ein. Seine These: Angesichts der deutschen Abtreibungsjudikatur sei der Lebens- und Würdeschutz des deutschen Grundgesetzes für menschliche Embryonen praktisch nicht existent (vgl. Merkels neuestes Buch "Forschungsobjekt Embryo", dtv-Verlag, München 2002). Mit seiner Argumentation rennt Reinhard Merkel in Österreich - je nach Rechtsauffassung - offene Türen ein oder stößt ins Leere: Tatsächlich bietet die österreichische Verfassung keinen vergleichbaren Schutz für ungeborenes Leben. Die Debatten über die Würde des Embryos werden gleichwohl geführt: So fand Dienstag vergangener Woche vor der ersten Arbeitssitzung des Wiener Beirates für Bio- und Medizinethik ein Workshop zum Thema "Reproduktives Klonen versus therapeutisches Klonen" statt, in dessen Rahmen Reinhard Merkel referierte. DH

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