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Die Einheit der geschaffenen Welt

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Die großen Naturphilosophen des Altertums konnte^ ihr Weltbild mit einem Blick überschauen. Sie standen der Natur nicht gegenüber, sondern mitten innen, selbst ein Teil von ihr. Es ist arge Überheblichkeit, wenn wir meinen, daß Naturbeobachtung und Experiment erst eine Erfindung des 17. oder 18- Jahrhunderts sei. Die alten Philosophen saßen nicht spekulierend in verschlossenen Kammern, um in einer Art logischem Würfelspiel ihre Erkenntnisse zu finden. Beweist nicht der Atomismus des Demokrit, das „panta rei“ des Heraklit klarstes Schauen des Naturgeschehens, tiefstes Vertrautsein mit der Natur? Allmählich ist uns die Einheitlichkeit der Welt fast völlig verlorengegangen. Durch die gewaltig übersteigerte Entwicklung der kritischen Vernunft ist die abendländische Kultur in immer neue Spezialgebiete zerfallen. Es ist die typisch männliche Geisteshaltung des europäischen Menschen, daß er stets dem Teil gegenübersteht, den er durch Analyse gewonnen und durch Synthese^ erst wieder zum Ganzen fügen muß. Die mehr intuitive Art der Frau hat immer das ungeteilte Ganze vor sich, ähnlich dem Denken der asiatischen Philosophie. Aber erst durch diese Analyse, durch immer weitere Abstraktion wurde unsere heutige Wissenschaft, unsere heutige Technik möglich. Nehmen wir zum Beispiel die Galileische Trägheitsbewegung: ein Körper ohne Einwirkung fremder Kräfte bewegt sich immer unverändert geradlinig und mit gleichbleibender Geschwindigkeit, Welch ungeheure Abstraktion! Man müßte eine ganze Welt erschaffen, in der nichts als dieser eine Körper existiert, um diese Trägheitsbewegung zu verwirklichen. Und doch wie fruchtbar hat sich dieser so abstrakte Begriff erwiesen, in Wissenschaft und Technik. Aber das allgemeine Streben nach Vereinfachung hat immer wieder auf den Irrweg geführt, daß man solche abstrahierte Erkenntnisse, auf einem begrenzten Spezialgebiet gewonnen, auch auf andere Gebiete der Naturwissenschaft übertragen wollte, ohne dabei zu bedenken, daß ein Begriff, je weiter er gelten soll, um so allgemeiner gefaßt sein muß. Zuerst abstrahieren wir bei der Beobachtung der Natur alle besonderen Gegebenheiten des beobachteten Falles, um zu einem Gesetz zu kommen; doch dann müssen wir von dem Gesetz alle speziellen Eigenheiten abstrahieren, soll es ein weiteres Gebiet beschreiben. So bleibt von der Ga-lileischen Trägheitsbewegung, wenn wir sie auf die Gesamtheit des Naturgeschehens ausdehnen wollen, nichts als der alte Satz vom zureichenden Grund: Durch nichts geschieht nichts.

Es geht unser immerwährendes Bemühen dahin, die ganze Welt auf eine Wurzel zurückzuführen, mit einem Griff das Wesen der Natur zu erfassen. Wir können die Welt durch viele Fenster sehen, aber immer muß dieser Blick weit und ein ganz allgemeiner sein, soll er mehr als nur einen kleinsten Ausschnitt umfassen. Als zur Zeit des Kopernikus, Galilei und Newton die Mechanik einen ungeheuren Aufschwung nahm und zum exaktesten und am meisten durchforschten Teil der ganzen Naturwissenschaft wurde, da war es kein Wunder, daß sich das Bestreben zeigte, alles auf diesen einen, eben am besten bekannten Teil der Natur zurückzuführen. Es gelang, die Akustik als einen Abschnitt der Mechanik anzugliedern. Die mechanische Wärmetheorie wurde aufgestellt. Clausius zum Beispiel schrieb sogar eine mechanische Theorie der Elektrizität. Ein Teil wurde für das Ganze genommen; und das ist zu verstehen, da es kaum ein Geschehen in der Natur gibt, bei dem nicht auch mechanische Veränderungen nachzuweisen sind, ponderomotorische Wirkungen. Aber doch ist dies nichts anderes, als wollte man das Eierlegen der Henne aus dem Gackern erklären. Als dann die Entwicklung der Elektrizität die Mechanik einholte und sogar überflügelte, da wurde die ganze Welt in elektromagnetische Schwingungen aufgelöst. Nur ein letzter Rest der Gravitation wollte sich nicht in dieses elektromagnetische Schema fügen. Auch diese Anschauung hatte ihre Berechtigung: Wir kennen in der Natur kaum einen Vorgang, bei dem nicht auch elektrische und magnetische Erscheinungen zu beobachten wären. Heute schütten wir das Kind mit dem Bade aus: Die Welt ist nicht mechanisch und nicht elektromagnetisch, sie ist überhaupt anschaulicher Beschreibung unzugänglich. Eine Reihe mathematisch-geometrischer Gleichungen, die nach bestimmten Regeln zueinander in Beziehung gebracht werden, das soll der letzte Grund der Welt sein.

Ein altes indisches Märchen erzählt uns: Drei Blinde wollen das Wesen eines Elefanten, ergründen. Der eine gerät an das Bein des Elefanten und sagt: „Der Elefant ist wie eine Säule.“ Der zweite erfaßt das Ohr: „Der Elefant ist wie ein Teppich“, und der dritte befühlt den Bauch des Elefanten und erklärt: „Der Elefant ist wie eine Tonne.“ Wären die drei Blinden Europäer, so würden sie miteinander darüber streiten, was der Elefant nun wirklich ist: ein Teppich oder eine Säule oder eine Tonne. Die Inder aber wissen, daß wir mit unseren Sinnen nur Stücke der Natur erkennen, Stücke, aus denen sich erst die ganze Wirklichkeit erschließen läßt. Der Elefant ist wie eine Säule und wie ein Teppich und wie eine Tonne. Nie aber würden die Blinden auf die absurde Idee kommen, weil jeder ein anderes Bild des Elefanten hat, zu behaupten, der Elefant sei überhaupt anschaulicher Vorstellung unzugänglich.

In ganz der gleichen Situation befindet sich die Physik. Die Welt ist nicht mechanisch oder elektromagnetisch, sondern sie ist mechanisch und elektrisch und magnetisch. Und zugleich ist sie Licht und Wärme und Strahlung der mannigfaltigsten Art. Doch meinen wir, daß dies alles nicht Eigenschaften des „Dinges an sich“ seien, sondern vielmehr gerade umgekehrt. Die Summe dieser Eigenschaften ergibt erst das, was wir als Materie bezeichnen. Etwa ein Stein: das Harte und Schwere, das Kalte, das Weiße, diese bestimmten elektrischen und magnetischen Wirkungen, dies alles zusammen, an dieser bestimmten Stelle des Raumes, das ist der Kieselstein. Es kann auch zum Beispiel nicht Wärme für sich geben, irgendwo im Räume, oder einen Körper, der nur die eine Eigenschaft hat, warm zu sein, ohne zugleich mechanische, elektrische und magnetische Wirkungen zu zeigen. So wie wir heute schon einen schwerelosen Körper als Widerspruch in sich empfinden, so werden wir auch erkennen müssen, daß es einen Körper ohne Wärme, ohne optische, ohne elektrische und magnetische Wirkungen nicht geben kann; aber auch umgekehrt, so ketzerisch es klingen mag, nicht Elektrizität, nicht Magnetismus oder mechanische Energie für sich, losgelöst von den anderen Formen, also gewissermaßen fern der Materie. Doch ist, wie gesagt, die Materie nicht Träger dieser

Energien, sondern sie ist die Summe dieser

Energien. Ein Stein, der nicht schwer ist, ist nicht, ein Stein, der keine Temperatur hat, ist nicht, ein Stein, der nicht sichtbar ist, ist nicht usw. Man wird, die Zeit ist vielleicht nicht mehr fern, feststellen müssen, daß zum Beispiel die Elektronen sichtbar sind, also Lichtstrahlen aussenden, daß sie träge und schwere Masse haben und eine bestimmte mechanische Festigkeit, daß sie außer der elektrischen auch magnetische Eigenschaften haben, daß sie, horribile dictu, denn das Wesen der Wärme soll ja in der Bewegung der übergeordneten Moleküle bestehen, daß auch Elektronen eine bestimmte Temperatur besitzen, und noch alle anderen entsprechenden Eigenschaften. Denn sonst wären sie eben nicht existent. Vor allem aber werden wir finden, daß sie weiter und weiter aus noch kleineren Bauteilen zusammengesetzt sind. Den heute schon bekannten Massenschwund müssen wir als Beweis dafür ansehen. Bis zu Lavoisier im 18. Jahrhundert hat man auf den hohen Schulen gelehrt, daß ein Körper, der verbrennt, in Nichts aufgezehrt wird. Erst Lavoisier konnte diese in niefits zerflossene Materie in den Verbrennungsgasen nachweisen und zeigen, daß ein Körper bei der Verbrennung nicht leichter wird, sondern durch die Aufnahme von Sauerstoff soear schwerer. Auch die Quantelung der Strahlung muß ihre primäre Ursache in der atomistischen Struktur der Leuchtelektronen haben, die das Licht aussenden.

Doch dies alles liegt noch im Schöße der Zukunft. Nur eines darf man von der Physik nicht erwarten, das ist die Uberwindung des Materialismus. Gegenstand der Physik ist, ob wir ihn nun so oder so nennen, die Materie und die Wirkungen einer Materie auf eine andere. Wir können die Einheit der Welt nicht so verwirklichen, indem wir Geist und Leben und den Gegenstand physikalischer Untersuchungen für wesensgleich erklären. Vielmehr kommt die Einhei: der Welt daraus, daß sie von einem Schöpfer geschaffen ist, von einem einheitlichen Willen, nach einem einheitlichen Plan, allerdings in verschiedenen Stufen. Daß die ganze geschaffene Welt nach gleichen Gesetzen geschaffen ist, die von einer Ebene in die andere hinüberreichen. Wenn Gott dem Menschen den Auftrag gab, sich die Welt Untertan zu machen, so gab er ihm dazu nicht untaugliche Werkzeuge. Mit unseren Sinnen sehen wir nicht, was über den Dingen ist. Aber unsere Sinne geben uns doch ein wahres, wesenhaftes Bild der Natur. In unserem Geist vermögen wir aus Erinnerung und Phantasie schöpferisch ein Abbild der geschaffenen Welt darzustellen und so die geistige Herrschaft über die Welt zu erringen. Den Materialismus aber können wir nicht dadurch überwinden, daß wir die Existenz der Materie überhaupt wegleugnen, sondern nur dadurch, daß wir für die Materie und für den Geist die rechten Grenzen finden.

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