6788203-1970_23_03.jpg
Digital In Arbeit

Die japanische Herausforderung

19451960198020002020

Seit Servan-Schreibers Bestseller ist es unter ökonomisch (Halb-) Gebildeten Usus, auf Schritt und Tritt die „amerikanische Herausforderung“ zu zitieren. Nun mag auf kurze und auf mittlere Sicht tatsächlich die Gefahr bestehen, daß sich Europa an die amerikanischen Konzerne ausverkauft. Auf längere Sicht jedoch könnte die „amerikanische Herausforderung“ sekundär werden im Vergleich zu einer weit aggressiveren wirtschaftlichen Provokation: der japanischen Herausforderung. Mit jugendlicher Vehemenz — es ist erst knapp hundert Jahrfe her, daß Japan aus seinem feudalistischen Dornröschenschlaf geweckt wurde — dringt das Land der aufgehenden Sonne mit preiswerten Industrieprodukten in alle Märkte ein.

19451960198020002020

Seit Servan-Schreibers Bestseller ist es unter ökonomisch (Halb-) Gebildeten Usus, auf Schritt und Tritt die „amerikanische Herausforderung“ zu zitieren. Nun mag auf kurze und auf mittlere Sicht tatsächlich die Gefahr bestehen, daß sich Europa an die amerikanischen Konzerne ausverkauft. Auf längere Sicht jedoch könnte die „amerikanische Herausforderung“ sekundär werden im Vergleich zu einer weit aggressiveren wirtschaftlichen Provokation: der japanischen Herausforderung. Mit jugendlicher Vehemenz — es ist erst knapp hundert Jahrfe her, daß Japan aus seinem feudalistischen Dornröschenschlaf geweckt wurde — dringt das Land der aufgehenden Sonne mit preiswerten Industrieprodukten in alle Märkte ein.

Werbung
Werbung
Werbung

Mit preiswerten Produkten, aber längst nicht mehr mit industiellem Ramsch; auf Kosten der Qualität billig zu sein, hat Japan Taiwan (Formosa) und insbesondere Hongkong überlassen. Die Zeit, in der Japan mit ungelernten Arbeitskräften, die mit der sprichwörtlichen Handvoll Reis zufrieden waren, ungeniert nachbaute, was europäische oder amerikanische Konstrukteure entwickelt hatten, ist vorbei. Heute vergibt Japan seinerseits Lizenzen, und so weltbekannte Erzeugnisse wie Leica-Kameras stützen sich zum Teil auf japanische Patente. Dem Geheimnis des japanischen Wirtschaftswunders auf die Spur zu kommen, ist nicht leicht. Schildern wir zuerst die Fakten, in denen sich dieses „Wunder“ manifestiert: 11,25 Prozent — reales! — Wirtschaftswachstum erwartet sich Japan für das Expo-Jahr 1970, dreimal soviel wie im Durchschnitt alle Länder, die zusammen mit Japan der OECD angehören. (Für Österreich hat das Wirtschaftsforschungsinstitut 5 Prozent prognostiziert.) Was jedoch schwerer wiegt: Diese 11,25 Prozent wären kein seltener Ausnahmefall. Für japanische Verhältnisse liegen sie nur wenig über dem langjährigen Durchschnitt, denn die reale Wachstumsrate hatte in den fünfziger Jahren durchschnittlich 9 Prozent und in den sechziger Jahren nahezu 10 Prozent betragen. Das bedeutet: Die japanische Wirtschaft wächst gut zweimal so schnell wie die der westlichen Industriestaaten. Was die Industrieproduktion betrifft, hat Japan bereits die Bundesrepublik überrundet und liegt in der Weltrangliste auf dem dritten Platz (nach den USA und der UdSSR). Im einzelnen hat sich Japan in der kurzen Zeitspanne von 1954 bis 1967 im Schiffbau vom fünften auf den ersten Platz, in der Autoproduktion vom siebenten auf den zweiten Rang und in der Stahlerzeugung von der sechsten auf die dritte Stelle vorgearbeitet.

In diesem Jahr 1967 war es an der Weltproduktion an Industriegütern mit 7,8 Prozent beteiligt. Der Abstand zu Rußland (14,5 Prozent) oder gar zu den Vereinigten Staaten 34,6 Prozent) war noch groß, aber groß ist auch noch das unausgenützte Potential Japans: Je Kopf erzeugten die 100 Millionen Japaner im selben Jahr 1967 noch um 10 Prozent weniger Industriegüter als die sieben Millionen Österreicher, in puncto industrielle Wertschöpfung per capita lag also damals Japan erst auf dem 13. Platz.

Noch größer ist der Rückstand Japans im Volkseinkommen; hier liegt es erst an zwanzigster Stelle. Das Bruttonationalprodukt pro Kopf der Bevölkerung belief sich 1968 erst auf 1350 Dollar; es war also nur ebenso hoch wie in der DDR oder in Israel. Vor Japan rangieren Italien,Österreich (1540 Dollar), Großbritannien, die Niederlande, Belgien, die Bundesrepublik (2210 Dollar), Kanada, Schweden (3200 Dollar) und die USA (4360 Dollar) — eine Rangliste, der allerdings die offiziellen Wechselkurse zugrunde liegen und die daher den Vorsprung der Vereinigten Staaten und einiger anderer „teurer“ Länder (wie etwa Frankreichs) größer erscheinen läßt, als er in Wirklichkeit ist.

Japan ist also ein armes Land. Oder richtiger: es ist heute noch ein armes Land. Die faszinierende Zukunft Japans sieht die „Financial Times“ folgendermaßen: „Unter der Annahme, daß die Wachstumsraten der letzten zehn Jahre auch für das nächste Jahrzehnt gelten, wird das japanische Bruttonationalprodukt je Kopf 1973 das italienische, 1974 das englische und 1980 das französische überholt haben. Im Jahre 1984 dürfte Japan ebenso wohlhabend sein wie die USA und Westdeutschland, und für das Jahr 1988 prognostiziert das japanische Finanzministerium ein Pro-Kopf-Volkseinkommen von 4750 Pfund Sterling — mehr als das schwedische und damit das höchste der Welt.“

Schematische Extrapolationen bisheriger Wachstumstrends sind wissenschaftlich höchst anfechtbar. Aber wenn der japanische Ministerpräsident Eisaku Sato vorhersagt, das 21. Jahrhundert werde das Jahrhundert Japans sein, muß er sich nicht auf das Bonmot Ignazio Silones verlassen, daß der Ruhm der Propheten auf dem schlechten Gedächtnis ihrer Zuhörer beruhe.

Wie konnte dieses japanische Wirtschaftswunder zustande kommen? Die Erklärung, Japan verfüge über ein riesiges unausgenütztes Arbeitskräftepotential (insbesondere seit der Ausgang des zweiten Weltkrieges dem territorialen Expansionsdrang ein Ende gesetzt und das Inselreich gezwungen hat, sein rasches Bevölkerungswachstum in der Heimat zu absorbieren), stimmt heute vielleicht noch qualitativ, nicht aber quantitativ; vielmehr haben die japanischen Auslandsinvestitionen nach der Sicherung der Rohstoffversorgung zunehmend die Nutzung von außerj apanischen Arbeitskraftreserven (etwa auf Formosa) zum Ziel. Richtig ist auch, daß die japanische Investitionsrate höher ist als die der Länder, mit denen es konkurriert: In den sechziger Jahren betrugen die inländischen Anlageinvestitionen stets ziemlich genau ein volles Drittel des Sozialprodukts, im Vergleich zu bloß einem Sechstel in den USA und etwa einem Viertel in Ländern wie Deutschland oder Österreich; ebenso hohe Investitionsraten erzielen sonst nur die kommunistischen Staaten, aber im Gegensatz zu Japan bedürfen sie dazu des Zwanges einer rigorosen Produktionslenkung.

Einen nicht unwesentlichen Beitrag zum rasanten Tempo des japanischen Wirtschaftswachstums mag indirekt auch der Umstand leisten, daß bis in die aüerjüngste Vergangenheit hinein die Angst der USA vor einer Wiederaufrüstung seines gefährlichsten Gegners im zweiten Weltkrieg Japan den militärischen Aufwand einer Großmacht erspart hat. Das alles sind aber nur Teilerklärungen, die weder einzeln noch in ihrer Gesamtheit ausreichen. Was den Kern des „japanischen Wirtschaftswunders“ ausmacht, erhellt blitzartig eine kleine Episode: Ein Österreicher, im Zuge einer Studienreise an einen Tokioter Rechtsanwalt empfohlen, ist angenehm überrascht, von seinem Gastgeber in zwar langsamen, aber nahezu fehlerfreiem Deutsch begrüßt zu werden. Seit wann er denn Deutsch lerne? Die verblüffende Antwort: erst seit ein paar Monaten nehme der Rechtsanwalt jeden Morgen von sieben bis acht Uhr eine Privatstunde. Ob er Klienten habe, derentwegen er so rasch Deutsch lernen müsse? „Nein. Aber man muß doch ständig etwas lernen!“ Ein Ausnahmefall? Wahrscheinlich. Aber vielleicht ein symptomatischer Ausnahmefall: Wer käme bei uns auf die Idee, in so intensiver und offensichtlich kostspieliger Form ein Studium zu betreiben, mit dem kein unmittelbarer Zweck verfolgt wird? Vielleicht ist dieser Rechtsanwalt aber gar kein Ausnahmefall. Seit Kriegsende schießen in Japan Universitäten und Hochschulen wie Pilze aus dem Boden. Heute gibt es ihrer bereits 760, und in der Vierzehnmillionenstadt Tokio ist jeder zwanzigste Einwohner Student. Von den Berufsanfängern werden 1972 bereits 30 Prozent Hochschulabsolventen sein, 1990 sogar 50 Prozent. Schon heute verfügt Japan über mehr Ingenieure als — abgesehen von den USA und der UdSSR — irgendein anderes Land der Welt. Das ist das eine: ein Bildungshunger, dessen Intensität man erst realisiert, wenn man sich in Erinnerung ruft, daß die japanische Durchschnittsfamilie, gemessen am Standard anderer Industrienationen, in beklemmend engen Wohnverhältnissen haust und sich mehr als bescheiden ernährt; sowohl der Kalorien- wie der Proteingehalt der Nahrungsmittel, mit denen die meisten Japaner das Auslangen finden, liegen nur knapp über den Entwicklungsländerwerten.

Die sprichwörtliche Genügsamkeit der Japaner prägt offensichtlich auch die Gewerkschaftspolitik. Zwar steigen die Löhne rasch, aber sie schmalem per Saldo nicht die mindestens ebenso kräftig wachsenden Gewinne.Das erklärt die exorbitant hohe Investitionsquote, deren Zustandekommen allerdings auch durch eine völlig unkonventionelle Finanzierungspolitik der Banken erleichtert wird: Wegen der rasanten Expansion ist der Eigenkapitalanteil in den Industriebilanzen häufig schon auf weniger als 30 Prozent zurückgegangen, und trotzdem fühlt sich der Kreditapparat nicht durch irgendeine „Goldene Bilanzregel“ an der weiteren Krediterteilung an derart „überschuldete“ Industrieunternehmen gehemmt.

Diese Genügsamkeit (oder vielleicht auch der Umstand, daß die nach westlichen Begriffen noch immer niedrigen Industrielöhne noch immer weit höher sind als der bisherige Verdienst in der Landwirtschaft) mag auch dem stark ausgeprägten Patriarchalismus im Führungsstil der Unternehmen zugute kommen; ledige Arbeiterinnen finden beispielsweise nichts an einer kasernenähnlichen Unterbringung mit „Zapfenstreich“ um neun Uhr abends. Hier — beim Patriarchalismus und bei der korrespondierenden Ohnmacht der Gewerkschaften — haken die Hoffnungen der hart bedrängten europäischen und amerikanischen Konkurrenten Japans ein: Solche frühindustrielle Verhältnisse, argumentiert man, können auch in Japan nur eine Ubergangsphase sein, und wenn jetzt die Vollbeschäftigung erreicht und auch die latente Arbeitslosigkeit in der kleinbäuerlich betriebenen Landwirtschaft im Verschwinden begriffen ist, werden sich auch Japans Industrieunternehmen bald mit denselben lohnpolitischen, arbeitsrechtlichen und Mitbestun-mungsproblemen konfrontiert sehen, mit denen die Betriebe in Europa und den USA fertigzuwerden haben. Vielleicht geht diese Hoffnung der Konkurrenten Japans in Erfüllung. Vielleicht trügt sie aber auch, weil sie den ganz anderen Volkscharakter des Japaners zuwenig in Rechnung stellt. Bei einer Nation, die Kami-kazeflieger hervorgebracht hat, darf nämlich nicht wundernehmen, daß in den USA tätige japanische Wissenschaftler ohne ein Wort des Widerspruchs ihre lukrativen Verträge kündigen und in die Heimat zurückkehren, sobald sie von der Regierung hiezu aufgefordert werden, und in dieser Sicht ist es auch nicht überraschend, daß noch keine wichtige industrielle Neugründung am lokalen Arbeitskräftemangel gescheitert ist, weil es der Japaner nicht als Zwang, sondern als selbstverständlichen Dienst am Vaterland empfindet, wenn er aufgefordert wird, einen Posten in einem ganz anderen Teil des Inselreiches anzutreten. Mag sein, daß die darin zum Ausdruck kommende Mentalität einfach ein Entwicklungsrückstand ist, weil die industrielle Revolution in Japan ein Jahrhundert später eingesetzt hat. Ebensogut ist es aber auch möglich — und viele Indizien sprechen dafür —, daß es Japan gelingt, die Zivilisation des Westens mit der Kultur des Ostens zu verschmelzen, sich also jenes Wertesystem zu bewahren, das seinen Ausdruck beispielsweise darin findet, daß sich die von Demonstranten jeder Couleur gefürchtete Einsatztruppe der Polizei nicht bloß in Judo und Karate, sondern, als einen Bestandteil des regulären Dienstbetriebes, auch in der Kunst des Blumenbindens übt.

Gelingt Japan diese Symbiose zwischen westlicher Zivilisation und fernöstlicher Kultur — und hier liegt vielleicht die letzte Erklärung des „japanischen Wirtschaftswunders“ — könnte die Prophezeiung durchaus zutreffen, daß sich die Welt anschickt, in das Jahrhundert Japans einzutreten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung