Die Kapriolen des Immunsystems zähmen

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Nicht jeder kann sich an der aufblühenden Natur erfreuen. Gerade die heurige Pollensaison könnte für Allergiker zur Belastungsprobe werden. Doch neue Forschungserkenntnisse ermöglichen mittlerweile ein besseres Management dieser Erkrankungen.

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Nicht jeder kann sich an der aufblühenden Natur erfreuen. Gerade die heurige Pollensaison könnte für Allergiker zur Belastungsprobe werden. Doch neue Forschungserkenntnisse ermöglichen mittlerweile ein besseres Management dieser Erkrankungen.

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Als Werner Wenninger (Name von der Redaktion geändert) in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts aufwuchs, war er eines der wenigen Kinder, die unter heftigem Heuschnupfen litten. Niesattacken, verstopfte Nase und juckende Augen erschwerten seinen Alltag. Allergien waren damals noch seltene Erkrankungen. Auch die Behandlungsmöglichkeiten waren limitiert. Es waren zwar bereits die ersten Antihistamin-Medikamente auf dem Markt, diese zeigten allerdings heftige Nebenwirkungen, etwa Tagesmüdigkeit. "Einmal bin ich während der Pollensaison sogar in der Schule eingeschlafen", erinnert sich Wenninger.

In den letzten fünf Jahrzehnten wurden nicht nur die Ursprünge von Allergien allmählich aufgedeckt; auch die Anzahl von Personen, die unter einer oder mehreren Allergien leiden, hat stark zugenommen. Rund eine Million Menschen hierzulande leidet laut österreichischem Pollenwarndienst unter einer Pollenallergie - Tendenz steigend. "Die Ursachen für diesen Anstieg sind vielfältig", sagt die Allergieforscherin Eva Untersmayr-Elsenhuber von der Medizinischen Universität Wien.

Im Dreck spielen ist erlaubt!

"Zum einen ist die sogenannte 'Hygienehypothese' mittlerweile gut belegt", berichtet die Forscherin. "Kinder, die immer wieder den unterschiedlichsten Bakterien ausgesetzt sind, trainieren ihr Immunsystem intensiv und sind daher viel weniger anfällig für Allergien und Asthma. Das ist etwa auf Bauernhöfen der Fall, wo Kühe, Schweine, Hühner und Pferde gehalten werden." Wer dagegen für einen keimfreien Haushalt sorgen will, tut seinem Nachwuchs nichts Gutes - ganz im Gegenteil. "Wird das Immunsystem - vor allem von Kleinkindern -nicht ständig durch eine Vielzahl von Bakterien herausgefordert, beginnt es sich zu langweilen", veranschaulicht Untersmayr-Elsenhuber. "Das heißt, das Immunsystem beginnt, Antikörper gegen eigentlich harmlose Substanzen wie Hausstaub, Tierhaare oder Pollen zu entwickeln."

Sogenannte banale Infekte wie Erkältungen sind ebenfalls ein wichtiges "Trainingsprogramm" für das kindliche Immunsystem. Schwerere Kinderkrankheiten wie zum Beispiel Masern hingegen schwächen das Immunsystem. Eine 2015 im renommierten Wissenschaftsmagazin Science erschienene Studie belegte dies eindrucksvoll. Einfach ausgedrückt, löschen Masernviren bestimmte Gedächtniszellen im Immunsystem aus, was zu einer -mehrjährigen - Schwächung des körpereigenen Abwehrsystems führt und die Kinder zwar gegen Masern immunisiert, für andere Erreger aber empfindlicher macht.

Aber nicht nur diese Studienergebnisse sollten Impfgegner nachhaltig von Impfungen gegen Kinderkrankheiten überzeugen. "Zudem können diese Erkrankungen häufig auch schwer verlaufen, vor allem dann, wenn Erwachsene davon betroffen sind", weiß Untersmayr-Elsenhuber. "Bei Kinderkrankheiten wie Mumps, Masern und Röteln überwiegt der Nutzen der Impfung das geringe Risiko von Impfnebenwirkungen." Und nicht zuletzt stellen Impfungen ebenfalls einen wichtigen "Sparringpartner" für das sich noch entwickelnde, kindliche Immunsystem dar.

Eine Theorie allein kann also den markanten Anstieg der Allergien in den letzten 50 Jahren, vor allem in der westlichen Welt, nicht erklären. Vielmehr spielt eine ganze Reihe von Faktoren eine Rolle, ob eine Allergie entsteht. Auch die Besiedelung des menschlichen Verdauungstraktes mit Bakterien, das sogenannte Mikrobiom, trägt seinen Teil dazu bei, ob sich eine Allergie entwickelt oder nicht.

Wehrhafte Pflanzen

Jeder Mensch trägt in seinem Darm rund 100 Billionen Mikroorganismen in sich: Diese wiegen rund ein Kilogramm und sind gerade in den letzten Jahren zunehmend ins Interesse der medizinischen Forschung gerückt. Diese Darmbakterien sorgen nicht nur für eine geregelte Verdauung, sondern stellen auch einen wichtigen Faktor bei der gesunden Reifung des menschlichen Immunsystems dar, wie eine aktuelle Studie in der Fachzeitschrift Digestive Diseases zeigt. "Kinder, die wegen einer bakteriellen Infektion wiederholt Antibiotika einnehmen müssen, entwickeln eine andere Besiedelung mit Darmbakterien als Kinder, bei denen dies nicht notwendig ist", schildert Untersmayr-Elsenhuber.

Um das kindliche Darmmikrobiom nach einer Antibiotikagabe wieder aufzubauen, empfiehlt die Allergieforscherin übrigens eine relativ einfache Maßnahme: "Geben Sie dem Kind Naturjoghurt zu essen -dies schickt schützende Milchsäurekeime in den Darm und baut das Mikrobiom wieder auf."

Nicht zuletzt führen Experten die steigende Allergiehäufigkeit, insbesondere der Pollenallergien, auch auf Veränderungen in der Pflanzenwelt zurück. Untersmayr-Elsenhuber nennt als Beispiel Birkenpollen: "Werden Birken vermehrt Stressfaktoren wie etwa Umweltverschmutzung ausgesetzt, beginnen sie mit der verstärkten Produktion eines bestimmten Eiweißes, das sie vor dieser Bedrohung schützt", erläutert sie. "In den Pollen dieser Birken findet sich dann natürlich ebenfalls ein höherer Bestandteil dieses Stressproteins -und genau darauf reagieren Betroffene allergisch."

Zweitwärmster Winter seit 250 Jahren

Diese neuen Erkenntnisse zur Allergieentstehung haben nicht nur zu verbesserten Therapiemöglichkeiten geführt. Auch in der Diagnostik bei Allergien hat sich viel getan. "Wir können heute etwa sehr genau feststellen, welche Therapie am besten helfen wird", sagt Untersmayr-Elsenhuber. "Mit neuen diagnostischen Verfahren, bei denen einzelne Allergene getestet werden, lässt sich besser vorhersagen, wer von einer ursächlich wirksamen Immuntherapie profitiert und bei wem die reine Symptombekämpfung mehr Sinn macht."

Die heurige Pollensaison wird jedenfalls eine Herausforderung für Menschen mit Heuschnupfen. Der zweitwärmste Winter seit 250 Jahren hat für einen früheren Beginn der Pollensaison gesorgt. Für Werner Wenninger ist die Heuschnupfensaison aber mittlerweile ein kleines Übel. Nicht zuletzt deshalb, weil die Medikamente, die er gegen seine Beschwerden einnimmt, kaum noch Nebenwirkungen haben. "Damit hat die Pollensaison ihren Schrecken für mich verloren", meint der 54-Jährige. "Nur meine Frau beklagt sich manchmal, dass ich während der Pollensaison mehr schnarche."

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