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Die nur ein Jahr alt werden

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Bei Gesprächen über die Säuglingssterblichkeit kann man sich davon überzeugen, daß selbst von durchaus gebildeten und im allgemeinen urteilsfähigen Menschen oft die Anschauung vertreten wird, das Sterben von Säuglingen bedeute, eine natürliche Auslese..Wie wenig diese Theorie den Tatsachen entspricht, zeigt die Erfahrung, daß bei unzweckmäßiger künstlicher Ernährung und unter schlechten Pflegebedingungen auch vollkommen gesund und kräftig geborene Kinder zugrunde gehen können, wogegen oft schwächlich geborene nicht nur am' Leben bleiben,'''rsrmuern auch zu körperlich und geistig vollwertigen Menden herariwachsen,''Wfnvse' von Äthfahg Tin zweckmäßig ernährt und gepflegt werden. Folgender Grundsatz muß allgemeine Anerkennung finden: Abgesehen von den Kindern, welche infolge biologischer Unreife lebensunfähig sind, kann fast jedes Kind, das keine Mißbildungen aufweist, keine Verletzung bei der Geburt erlitten hat oder nicht an den Folgen einer der gewiß seltenen Embryopathien leidet, am Leben erhalten werden. Gelingt dies trotzdem nicht, so sind in der überwiegenden Zahl der Fälle die äußeren Verhältnisse daran schuld.

So drängt sich dem einsichtigen, verantwortungsbewußten Sozialhygieniker die Frage auf, wie viele Kinder bei uns unter besseren Aufzuchtbedingungen erhalten werden könnten. In Österreich beträgt die Säuglingssterblichkeit in den letzten Jahren rund 40 pro mille; diese Zahl, wird nach internationaler Gepflogenheit — wegen der hohen Sterblichkeit in den ersten Lebenswochen — aufgeschlüsselt in Frühsterblichkeit: 25 pro mille (1. Lebensmonat) und Nachsterblichkeit: 15 pro mille (2. bis 12. Lebensmonat). Das heißt: In Österreich sterben von 125.000 I.ebendgeborenen im ersten Lebensmonat etwa 3000. in den darauffolgenden elf Monaten etwa 2000 Kinder. Nach Berechnungen führender Kinderärzte in den gesundheitspolitisch fortgeschrittenen Ländern läßt sich beim heutigen Stand der Medizin der Promillesatz der Frühsterblichkeit auf 10 pro mille, derjenige der Nachsterblichkeit auf 5 pro mille herabdrücken. Dies würde — auf Österreich bezogen — eine Senkung der Säuglingssterblichkeit von 5000 auf etwa 2000 bedeuten. Ganz gewiß ist dieses Ziel auch bei uns zu erreichen. Der Fortschritt der modernen Kindergesundheitspflege, am Beispiel der englisch sprechenden Länder, Skandinaviens und der Niederlande verdeutlicht, zwingt uns, das bisher Erreichte nicht als ein Optimum zu betrachten, sondern unseren Blick auf die Zukunft zu lenken. Die Einzeletappen, die wir erreichen müssen, lassen sich unschwer abstecken: Wenn wir alle Hebel in Bewegung setzen, um es den anderen gleichzutun, müßten wir innerhalb von fünf Jahren eine Reduktion der Säuglingsmortalität von 40 pro mille auf 30 pro mille erreichen können. Eine weitere Senkung auf 20 pro mille ist in einem Land, in dem das Räderwerk der Gesundheitsprophylaxe auf vollen Touren läuft, nach den Erfahrungen in den genannten Ländern eine verhältnismäßig leichte Aufgabe. Hätten wir dieses Ziel in weiteren fünf Jahren, also etwa im Jahre 1970, erreicht, würden wir uns, so wie die Kinderärzte und die Medizinalbeamten in England und Skandinavien, kaum mit dem Erreichten zufrieden geben, wir würden eine weitere Reduktion der Säuglingsmortalität anstreben, wenn diese sich dann auch weniger dramatisch gestalten würde als in der Vergangenheit.

Woran sterben unsere Kinder im ersten Lebensjahr? Die Todesursachen Diphtherie, Scharlach, Tuberkulose und Lues gibt es praktisch nicht mehr. Bei den 1892 Kindern, welche im Jahre 1958 nach der vierten Lebenswoche vor Beendigung des ersten Lebensjahres verstarben (= Nachsterblichkeit), gab es etwa 600 Fälle von Lungenentzündung und Grippe, etwa 400 Fälle von Magen-Darm-Erkrankungen, 70 Todesfälle wurden als Unfälle, 90 als Kinderkrämpfe ausgewiesen. Die Rubrik „Sonstige Todesursachen“ verzeichnete 280 Fälle.

Man halte sich vor Augen: Man weiß, mit welch hingebungsvollem Eifer auf den Kliniken um das Leben eines kleinen Wesens gerungen wird, das mit dieser oder jener Mißbildung zur Welt kommt. Gelingt eine chirurgische Spitzenleistung, etwa die, einen angeborenen Verschluß der Speiseröhre durch eine Operation am zweiten Lebenstag mit Erfolg und für dauernd zu korrigieren, so erregt diese Meisterleistung — mit Recht — allgemeine Bewunderung und Aufmerksamkeit. In geradezu groteskem Gegensatz zu solchen der Öffentlichkeit mitgeteilten wissenschaftlich-ärztlichen Berichten, die bekunden, wieviel Können, Mühe, Pflege und Sorge eingesetzt werden, um das Leben auch nur eines Kindes zu retten, steht die aus Statistiken ersichtliche erschütternde Tatsache, daß in unserem Lande — sozusagen vor unseren Augen — jährlich mindestens 2500 bis 5000 Kinder im ersten Lebensjahr sterben, die bei der Geburt vollkommen gesund waren; dies in einem Lande, in welchem die Versorgung der Bevölkerung mit Ärzten als ausgezeichnet zu bezeichnen ist: das Verhältnis ein Arzt auf 650 Einwohner wird in keinem Land der Erde übertroffen.

Was ist zu tun?

Die Kinderärzte, und mit ihnen alle praktischen Ärzte, die Gesundheitsbehörden, alle Fürsorgerinnen, Schwestern und Hebammen haben die Pflicht, unsere sämtlichen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um auf dem bedeutendsten Sektor unseres Gesundheitswesens — jenem, welcher der Erhaltung gesund geborenen Lebens verschrieben ist — das zu erreichen, was in anderen Ländern erreicht worden ist.

Das Programm für den Ausbau der Kindergesundheitsfürsorge müßte viele Seiten füllen. Man hört seit Jahren viel über die Notwendigkeit, den Gesundheitsdienst auszubauen und jedermann zugänglich zu machen. Diese Notwendigkeit wird allgemein anerkannt. Aber umfassende Gesundheitsprogramme kosten Geld, und die Debatten über ihre Finanzierung geben zu heftigen medizinisch-politischen Kontroversen Anlaß. Es soll über diese Auseinandersetzungen hier nicht gesprochen werden, aber es sei darauf hingewiesen, daß kein nationales Gesundheitsprogramm, das die Verbesserung und den weiteren Ausbau der Gesundheitsfürsorge zum Ziel hat, ob von öffentlicher Hand oder von freiwilliger Seite finanziert, erfolgreich sein kann, wenn nicht hinlänglich Vorsorge getroffen wird, daß wirklich eine genügende Zahl von gut ausgebildeten Ärzten. Fürsorgerinnen und Schwestern zur Verfügung steht.

Daß wir mit unseren Bestrebungen auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge des Kindes in der breiten Masse so wenig Echo und Unterstützung finden, mag unter anderem seinen Grund auch in dem geradezu unglücklichen Wort „Fürsorge“ haben, einem Begriff, der vielfach falsch verstanden wird: „Fürsorge“ ist für viele etwas, dessen nur wirtschaftlich bedrohte Schichten bedürfen. Aber die Entwicklung der Gesundheitsfürsorge hat gezeigt, daß zuvorkommende Maßnahmen als sogenannte „Gesundheitsvorsorge“ bei der Bekämpfung von Volkskrankheiten und bei der Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit den wirtschaftlicheren und wirksameren Weg darstellen als nur „fürsorgerische“, das heißt helfende Maßnahmen für die Kranken. Was wir also in der Gesundheitsfürsorge erstreben und tun, ist schon lange keine „Fürsorge“ mehr, sondern echte, umfassende „präventive“ Medizin. Es wäre d?her wohl zu überlegen, ob man nicht in Hinkunft den Terminus „Fürsorge für das Kind“ ersetzen sollte durch die Bezeichnung „Kinder- (und Jugend-) Gesundheitspflege“. Es wäre gewiß ein Vorteil, wenn sich schon aus der Wortbildung allein der Inhalt des Begriffes ableiten und genau begrenzen ließe.

Über eine Zentralstelle, eine Organisationszentrale, welche die österreichischen Fürsorgebezirke zusammenzufassen hätte, ist in den letzten Jahren viel verhandelt worden. Man mag auf dem Standpunkt stehen, daß dieser vom verewigten Professor R e u ß seinerzeit stark gehegte Plan aus den verschiedensten Gründen undurchführbar ist. Was aber angestrebt werden m u ß, was sofort in Angriff genommen werden kann, ist die Schaffung einer „Zentralstelle zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit“. Mag diese Institution irgendeinen zweckmäßigen Namen tragen, etwa „Institut für präventive Pädiatrie“, „Gesundheitsmuseum für das Kind“ oder „Zentralstelle für Gesundheitspflege für das Kind“ — jedenfalls müßten von dieser Institution immer wieder notwendige Initiativen ausgehen, sie hätte das Material zu sammeln, das zur Propagierung der erforderlichen Maßnahmen benötigt wird. Die weiteren Aufgaben dieses Instituts würden umfassen: das Anlegen eines Archivs, die Herstellung von Unterrichtsmaterial, von Tabellen, von Modellen, Lichtbildern und Photographien, Herstellung und Beschaffung von Filmen, Werbung für die Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit in Presse, Rundfunk, Film und Fernsehen. In kürzester Zeit könnte aus dieser Zentrale eine Forschungsstelle werden, in der jeder Arzt, der seine Aufgaben auf dem Gebiet der präventiven Median zu erfüllen wünscht, seine Kenntnisse von Sozialbiologie und Lebensstatistik ergänzen kann. Mit Hilfe eines derartigen Instituts könnte sich auch eine neuorientierte Kindergesundheitspflege (bisher „Gesundheitsfürsorge für Mutter und Kind“) den modernen Bedingungen einer in das Atomzeitalter eintretenden Zivilisation anpassen.

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