6592940-1952_38_07.jpg
Digital In Arbeit

Die Vielfalt der Völker und die Einheit des Menschentums

Werbung
Werbung
Werbung

Der amerikanische Ethnologe CI. Kludc- höhn schrieb in seinem Buch „Mirror of Man“, einem Best-seller auf dem Bücher- märkt der USA, die wichtigen Sätze; „In vieler Hinsicht, direkt und indirekt, kann die Völkerkunde (.Anthropology1) die öffentliche Meinung beeinflussen. Von nicht geringer Bedeutung ist es, daß sie die grundsätzliche Einheit der Menschheit erweisen kann, trotz betonter Divergenzen Die Lösung, die der Völkerkundler (für aktuelle Menschheitsfragen) dar- bi tet, ist Einheit in der Vielheit." Diese Gedanken fanden ihren Ausdruck beim 4. Internationalen Kongreß für Anthropologie und Ethnologie, der vom 1. bis 8. September in den Sälen der Wiener Universität tagte. Er war mit seinen rund 800 Teilnehmern aus 51 Staaten einer der größten Kongresse dieser Art, ein Zeugnis für das Ansehen der Wiener Ethnologenschule in der weiten Welt und für die Beliebtheit Wiens als Kulturzentrum. Man kann den Reichtum und die Vielfalt der geleisteten Arbeit ermessen, wenn man in Betracht zieht, daß etwa 400 Vorträge gehalten wurden, die sich auf 20 Sektionen verteilten, wovon auf die Ethnologie im engeren Sinne allein 11 Sektionen kamen. Der physischen Anthropologie waren vier Sektionen gewidmet, die übrigen verteilten sich auf Nachbarwissenschaften, wie Prähistorie, Liijguistik, Psychologie usw.

Die Referate und Diskussionen ließen so recht die Vielgestaltigkeit und Kompliziertheit des Völkerlebens und Kulturgeschehens erkennen. Man ist heute mehr denn je davon entfernt, den kulturellen Werdegang der Menschheit durch vereinfachende Erklärungen, durch bloße Schemata erfassen zu wollen. Dieser Umstand steht so recht im Einklang mit dem Reichtum der seelisch-geistigen Kapazitäten des Menschen, mit den schier unerschöpflichen Möglichkeiten seiner kulturellen Betätigung. Jede der zahlreichen Kulturen ist eine Individualität für sich. Jede Kultur hat ihre eigene, einmalige Geschichte, und zwischen den verschiedenen Lebensformen der Völker bestehen historische Beziehungen. Die Zeit ist vorüber, die Geschichte der Menschheit erst mit den alten Hochkulturen, den Ägyptern, Babyloniern oder Griechen beginnen zu lassen. Auch die schriftlose Menschheit, die sogenannten Naturvölker, das besondere Forschungsobjekt der Ethnologie, haben ihre Geschichte, die aus Analyse und verglei- čhėnder Betrachtung ihrer Kulturen, aus der kritischen Wertung ihrer Traditionen erschlossen werden können. Diese Verfahren haben aber, wie es in der Natur

der Sache liegt, ihre Begrenzung. Es ist für die ethnologische Forschung unerläßlich, so weit als möglich auch die Ergebnisse der Prähistorie sowie etwaige schriftliche Berichte über Naturvölker (alte Chroniken und Annalen, Angaben aus der Entdeckerzeit usw.) heranzuziehen, um die mit Hilfe bestimmter Kriterien der historischen Völkerkunde gewonnene relative Chronologie (Kulturschichten) zu ergänzen und zu modifizieren sowie den Kulturwandel in den betreffenden Kulturen besser erfassen zu können.

Es ist aber auch eine der Hauptaufgaben der Wissenschaften vom Menschen, in der fast unabsehbaren Mannigfaltigkeit der Völker und Kulturen nach Ordnungsprinzipien zu suchen, Generalzusammenfassungen der bisherigen Forschungsergebnisse durchzuführen und nach Synthesen zu streben. Ein solcher Versuch wurde vor Jahrzehnten von der Wiener Schule der historischen Ethnologie unternommen (Schmidt, Köppers). Diese Aufstellungen, die sogenannten Kulturkreise, erfahren aber derzeit in Wien eine weitgehende Revision, wie es im Hinblick auf die neuen Tatsachen und Problemstellungen nicht anders zu erwarten ist. Diese Selbstkritik an den einstigen Untersuchungsergebnissen, an den historischen Rekonstruktionen des kulturellen Werdeganges der Naturvölker, und der Wille, auf dem Boden der erarbeiteten Resultate auch zu einschneidenden Änderungen in der wissenschaftlichen Beurteilung des völkerkundlichen Stoffes zu schreiten, zeugt von der inneren Kraft und der Elastizität der historischen Ethnologie. Diese Situation kam auch beim Wiener Kongreß verschiedentlich zum Ausdruck. Es erweist sich auch immer mehr die Fruchtbarkeit des Zusammenwirkens der historischen Betrachtungsweise mit anderen ethnologischen Richtungen (Struktur- und Funktionsforschung usw.), wie sie auch in anderen Ländern gepflegt werden. In richtiger Weise angewendet, besteht zwischen diesen Betrachtungsweisen und der historischen Methode der Ethnologie kein Gegensatz, im Gegenteil, sie ergänzen einander.

Es kann als ein schönes Symbol gewertet werden, daß die europäische und österreichische Volkskunde auf dem Kongreß als eine Sektion der Ethnologie vertreten war. Der sich mit außereuropäischen Völkern beschäftigende Ethnologe kann viel von der Volkskunde des abendländischen Kulturbereiches lernen, wie umgekehrt unser heimisches Volkstum sein tieferes Verständnis und seine richtige

Wertung durch die Völkerkunde erhalten kann. Die europäischen Volkskulturen wurzeln ja letzten Endes in Kulturschichten, die wir im Grundsätzlichen heute noch bei Naturvölkern vertreten finden. Wie der 84jährige Präsident des Wiener Anthropologen- und Ethnologenkongresses, Prof. Wilhelm Schmidt, der Begründer und Meister der Wiener Ethnologenschule, in der Eröffnungssitzung ausführte, wird der weltgeschichtliche Prozeß des Überganges der bisherigen Kolonialvölker zu politisch eigenständigen Nationen auch auf die Völkerforschung seine Auswirkung haben, daß nämlich diese Völker das Studium ihrer eigenen alten Kulturen selbst in die Hand nehmen werden. Einen besonderen Aufschwung hat die Volksforschung in Japan genommen, dessen Ethnologen in Zusammenarbeit mit den Prähistorikern und Anthropologen des Landes bereits zu bedeutsamen Ergebnissen über den kulturellen Aufbau

des Inselreiches gelangt sind. Prominente Vertreter der japanischen Völkerkunde (M. Oka, E. Ishida) haben seinerzeit am Wiener Institut für Völkerkunde ihre Ausbildung erhalten.

In seiner Schlußansprache hob Schmidt die Fruchtbarkeit des persönlichen Kontaktes der Vertreter der verschiedenen Länder hervor. Wissenschaftliche Gegner lernten durch Aussprache von Mensch zu Mensch einander schätzen und den Standpunkt des anderen verstehen. Dies steht im schönen Einklang zu dem, was Wien und Österreich so recht sein Ansehen verleiht, mit der Einfühlungsgabe für fremdes Wesen ein verbindender Mittelpunkt zu sein für den Ausgleich von Gegensätzen.

Es ist nicht leicht, auf begrenztem Raum auch nur annähernd eine Würdigung der zahlreichen Themen und des wissenschaftlichen Ertrages des Kongresses zu geben. Es sei nur auf einige wichtige Punkte hingewiesen. Von grundsätzlicher Bedeutung waren Vorträge über das Verhältnis der Völkerkunde zu Nachbarwissenschaften, wobei W. Köppers neue Gedanken über die Parallelisierung von Ethnologie und Prähistorie vorlegte. Von verschiedener Seite wurde das aktuelle Thema der Auswertung völkerkundlicher Erkenntnisse für Schule-und-Volksbildung erörtert

und auf die Dringlichkeit eines Ausbaues des Geschichts- und Geographieunterrichts in diesem Sinne hingewiesen, denn gerade heute ist eine universale Orientierung vonnöten. Vertreter der Frankfurter Ethnologenschule berichteten über bedeutsame Ergebnisse ihrer letzten Forschungsexpedition nach Südwestabessinien, wobei zum Teil noch unbekannte Volksstämme studiert werden konnten. In mehreren Vorträgen wurde an Hand von auffallenden Übereinstimmungen in Kunstmotiven, Vorstellungen und Gebräuchen über interkontinentale Beziehungen zwischen Europa, Südostasien und Ozeanien gehandelt. Chr. Fürer-Haimendorf (London) legte eine neue, wohlbegründete Arbeitshypothese über die Herkunft der Dravidasprachen Vorderindiens vor, wonach diese zusammen mit einem Megalithkomplex (bestimmte kultische Steinsetzungen) und einer Eisentechnik nach der arischen Einwanderung von einer Völkerbewegung aus dem Westen im ersten vorchristlichen Jahrtausend nach Indien Eingang fanden. Von großem Interesse war ferner ein Vortrag über neue Ausgrabungen auf den Andamaneninseln im Bengalischen Meerbusen, wodurch die bisherige Auffassung von der ethnologischen Wertung der dort wohnenden, als recht urtümlich geltenden Kleinwüchsigen neue Aspekte erhielt. E. Schaden (Sao Paulo) zeigte in einem instruktiven Referat, wie die einst im Verbände des Jesuitenstaates in Paraguay lebenden Guarani-Indianer die von den Priestern gelernten zivilisatorischen Errungenschaften weitgehend aufgaben und christliche Elemente dem wieder aufgelebten indianischen Volksglauben anpaßten, ein interessanter Fall von Kulturänderung und kultureller Integration.

Im Rahmen der Vorträge kam auch die jüngste Ethnologengeneration des Wiener Instituts für Völkerkunde zur Geltung. Zwei Studenten, die mit geringen Mitteln eine mehrmonatige Studienreise zu den Kamelnomaden der Tuareg in der Sahara durchgeführt hatten, berichteten über Ergebnisse ihrer Untersuchungen. ■

Die physische Anthropologie, die im Gegensatz zur Ethnologie in den Bereich der Naturwissenschaften gehört, wurde u. a. durch Vorträge über die Altmenschenfunde (Homo-sapiens-Problem), über erb- genetische, biologische und eine Reihe anderer Spezialfragen gefördert. M. G u- sinde (Washington) berichtete über die anthropologischen Ergebnisse seiner Forschungsreise zu den Buschmännern Südafrikas.

Eine Sondersitzung war der Diskussion über die Organisierung und Durchführung höchst aktueller Forschungsaufgaben gewidmet, worin der Vizepräsident des Kongresses, R. Heine-Geldern, auf die dringende Notwendigkeit der gründlichen Erforschung der Kultur und Sprache wenig oder noch nicht bekannter Volksstämme aufrief, um unersetzliche Kulturdokumente in letzter Stunde vor dem

völligen Verschwinden für die Wissenschaft zu retten. Besonders das tropische Südamerika gehört heute zu den ethnologisch-prähistorisch und linguistisch noch am wenigsten erschlossenen Erdgebiete. Es werden auf internationaler Basis Maßnahmen zu treffen sein, diesen Anliegen zur Realisierung zu verhelfen.

Hinter all der verwirrenden Vielfalt an Kulturen, Sprachen und Rassen erblickt die Völkerforschung die wesentliche Einheit des Menschentums; sie sieht bei allen Völkern den Menschen als Persönlichkeit, als Schöpfer und Träger der Geschichte und Kultur in der grundsätzlichen Freiheit seiner Entschlußkraft und seines Handelns. Es ergibt sich aber auch die Erkenntnis, daß die kulturelle Wirksamkeit des Menschen noch viel Rätselhaftes und Unbekanntes birgt, so daß der verantwortungsvolle Forscher, der Sensationen meidet, ehrlich bekennen muß, auf viele Fragen heute noch keine Antwort geben zu können.

Der bei der Schlußsitzung von den amerikanischen Kollegen vorgebrachte Antrag, den nächsten Kongreß für Anthropologie und Ethnologie in Philadelphia abzuhalten, fand ungeteilte Zustimmung.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung